Für die heutige Vinylsünde konnten wir Philipp von der Band Baretta Love gewinnen. Getreu dem Motto “Was lange währt, wird endlich gut!” hat er uns nach einer gefühlten Ewigkeit mit einer Vinylsünde beliefert. Und endlich können wir auch mal wieder eine Vinylsünde präsentieren. Feuer frei für Philipp und viel Spaß beim Lesen:
Für meine Vinylsünde (oder ich nenne sie jetzt einfach mal `heimliche Lieblings-Kackplatte‘ aka `guilty pleasure‘) habe ich mich schlussendlich für die Platte mit der fiesesten und überproduziertesten Hollywood-Bubble-Gum-Chart-Shit-Produktion entschieden. Sia – „1.000 Forms of Fear“. Uhhh eine Nr.1 Pop Sängerin, das klingt erstmal gruselig und die meisten Leser haben bestimmt jetzt schon Angst da reinzuhören, aber wenn man von der aufgeblasenen Produktion absieht, wird man großzügig belohnt.
Alles begann damit, dass Friedi, einer meiner engsten Freunde, mit dem ich eine heimliche Leidenschaft für Pop Musik teile, mir von diesem geilen Song erzählte, der ihm nicht mehr aus dem Ohr ging. Dazu gab es ein abgedrehtes Video, in dem sich eine 11 jährige, wie auf Drogen, die Seele aus dem Leib tanzt. Alles klar, hab ich mir dann auch direkt reingezogen. Es war Sia mit Ihrem Song „Chandelier“. Die Strophe mit diesem typischen New School Hip Hop E-Drum Beat war überhaupt nicht meins, aber als dann der Chorus einsetze, war’s um mich geschehen. Einen so inbrünstig und powervoll gesungenen Chorus hatte ich seit Whitney und Adele nicht mehr gehört. Dabei zeichnet das Brechen ihrer Stimme ihren Gesang aus, was man so sonst bei keinen Profisänger/innen hört und der Gesamtstimmung diesen verletzlichen Charme und eine kleine Portion Dreck gibt. Nachdem ich mit dem Song warm geworden bin, dachte ich mir „ok, hörste mal ins ganze Album rein“, was mich schon etwas Überwindung gekostet hat, da mir diese neuen Bombast-Produktionen oft einen kalten Schauer über den Rücken laufen lassen. Die Platte hat mich dann aber sowas von abgeholt, dass ich sie eine Zeit lang echt gesuchtet habe.
Natürlich gibt’s dort kein geiles Schlagzeug oder großartig Gitarren zu hören und selbst die Strophen sind oft nicht wirklich catchy, aber wenn der Chorus einsetzt, läuft die Hit-Maschine. Vielleicht ist das hier auch das Geheimrezept: in der Strophe erstmal den Ball flach halten und keine großen Erwartungen wecken, um dann im Chorus die Überraschungs-Hit-Keule rauszuholen, mit der man abräumt. Eigentlich ganz clever, sollten wir mit Baretta auch mal ausprobieren. Nachdem „Chandelier“ als erster Song erstmal alles wegfegt, wird mit „Big Girls Cry“ gleich nachgelegt. Auch hier wieder: Strophe geht in Ordnung, Bridge lässt großes verhoffen und BÄÄM kommt der geile Chorus. „Eye of The Needle“ exakt das gleiche Schema. Zum Schluss des Albums folgt nach dem geilen „Free The Animal“ und „Fire Meet Gasoline“ mit „Cellophane“ noch eine Layback-Nummer, bei der Sia’s crispy Stimme nochmal komplett scheinen darf.
Auf jeden Fall habe ich sie seitdem lieben und schätzen gelernt und mich viel mit Ihrer Person beschäftigt, was wirklich interessant ist und ich hier auch nochmal kurz anreißen muss, ob ihr wollt oder nicht. Sia hatte vor Ihrem 2014er Durchbruch schon einige Indie Pop Alben veröffentlicht und seit Jahren mit Drogen/Alkoholsucht und Depressionen zu kämpfen, was touren für Sie unmöglich machte. Somit entschloss sie sich 2011 aus der Musikbranche zurückzuziehen und von da an nur noch Songs für andere Musiker/innen wie Rihanna (Diamonds), Adele, Katy Perry, Britney Spears und dem Nickelback unter den DJ’s David Guetta zu schreiben. Irgendwann sind aber doch einige Songs übergeblieben, die ihr selber so viel bedeutet haben, dass sie wieder ein eigenes Album veröffentlichen wollte. Was also tun, wenn man eigentlich keinen Bock auf diesen ganzen Stress als Person des öffentlichen Lebens inkl. Touren und Presseterminen hat? Die Antwort: es einfach so umsetzen. Sia einigte sich mit der Plattenfirma zum Album „1.000 Forms Of Fear“ nur Konzerte zu spielen, auf die sie Bock hatte. Und um sich dem bevorstehenden Medientrouble zu entziehen, entschied sie sich, ihr Gesicht nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die sich immer verkleidende Kunstfigur Sia mit ihren schwarz-blonden Perücken, bei denen die Hälfte des Gesichts verdeckt wird, war geboren. Sorry, aber wie geil ist das bitte?! So ein offensichtlicher Mittelfinger an das kommerzielle Pop-Business, das ist schon ganz schön geil. Sie macht das, worauf sie Bock hat und schreibt alle Songs selber, das feiere ich hart ab. Sie treibt es ja sogar so weit, dass man sie nicht mal mehr in ihren eigenen Musikvideos sieht, weshalb sie von der eingangs erwähnten, damals 11 jährigen Maddie in fast allen Ihrer Musikvideos verkörpert wird.
Schlussendlich bleibt Sia trotz Ihrer guten Songs und der tollen Persönlichkeit eine klare Outsiderin in meinem Plattenregal. Das hat das Album einfach dieser wirklich oft unangenehmen Bombast-Produktion zu verdanken. Selbst wenn ich mit meinem Fahrrad durch Berlin fahre und mein MP3-Player plötzlich auf Sia wechselt, muss ich manchmal kurz zusammenzucken und mich erstmal an die Produktion gewöhnen. Ach Sia, ich hab dich trotzdem in mein Herz geschlossen und hoffe, dass ich dich und deine Musik den Leser/innen schmackhaft machen konnte. Beim nächsten Album ein bisschen weniger Kitsch und mehr Dreck, dann wird alles gut.