1. CASPAR BRÖTZMANN MASSAKER: Der Lärm, der liebt
Caspar Brötzmann ist kein Musiker, der spielt – er beschwört. Kein Song, der seine Gitarre verlässt, wirkt kalkuliert. Vielmehr scheint er aus dem Innersten heraus zu strömen, aus einem Ort, der sich jeder klaren Definition entzieht – Seele, Herz, Zorn, Vision. Mit seiner aktuellen Veröffentlichung „It’s A Love Song“ entfacht Brötzmann ein klangliches Fanal – eine musikalische Beschwörung von Liebe, geboren aus der Wut über eine Welt, die taumelt, brennt, kollabiert.
Dabei entzieht sich dieses Werk allen gängigen Vorstellungen von einem Album. Kein Studio, keine Singles, keine Melodien. Zwei Versionen eines einzigen Stücks: „All This Violence“. Live gespielt. Live geschrien. Live erlitten. Dazwischen ein Intro von so minimalistischer Brutalität, dass es wie ein Sarkophag wirkt, der sich langsam öffnet.
2. Kein Massaker-Album – sondern ein Massaker an Erwartungen
Nein, „It’s A Love Song“ ist nicht das Comeback eines Massaker-Albums nach 25 Jahren. Zu viel ist seitdem passiert, zu viele Systeme bröckelten, zu viele Träume zerfielen zu Staub. Und Caspar Brötzmann? Er hat das alles gehört. In sich aufgenommen. Und jetzt: ausgespuckt.
„All This Violence“ ist kein Stück im klassischen Sinn – es ist ein brodelnder Organismus, ein tektonisches Zittern. Gespielt mit Saskia von Kietzing (Drums) und Eduardo Delgado Lopez (Bass), entfaltet sich eine Kraft aus Noise, Doom und Industrial, die weniger Musik als vielmehr ein Stresstest für das Nervensystem ist. Kein Aufbau, keine Dramaturgie – nur Ausbruch.
Und doch: Wer genau hinhört, spürt unter der Oberfläche eine Botschaft. Nicht Hass, sondern Hoffnung. Nicht Resignation, sondern Aufschrei. Eine Liebesbotschaft, aus Splittern zusammengesetzt.
3. Zwei Städte, ein Aufschrei – Wien und Dresden im akustischen Brennglas
Die beiden Versionen von „All This Violence“ – aufgenommen in Wien und Dresden im Januar 2025 – entfalten ihre Wucht auf je eigene Weise.
„Live in Vienna“ beginnt mit einem Bass, der wie ein Digeridoo brummt – erdig, unendlich tief, als käme er aus dem Bauch der Welt. Brötzmanns Gitarre pfeift, kreischt, zittert. Erst nach Sekunden begreift man, dass all diese Klänge von nur einem Instrument stammen. Das Stück schreitet nicht voran, es breitet sich aus wie Lava, form- und ziellos, aber alles verschlingend. Der Gesang? Eher ein letzter, verzweifelter Befehl.
Dresden dagegen – wo Brötzmann 1988 seine ersten Erfahrungen mit Doom machte – trägt das schwerere Gewicht. Die Version dauert 17 Minuten. Und ist doch keine Sekunde zu lang. Die Drums setzen verspätet ein, poltern dann aber mit solcher Wucht, dass sie wie Grabdeckel auf die Komposition fallen. Es ist ein Epos des Kontrollverlusts.
4. Eine Bar öffnet sich – „Bar Open“ als Manifest des radikalen Minimalismus
Was als Intro fungiert – das Stück „Bar Open“ – ist so reduziert, dass es fast nicht existiert. Zwei Akkorde, lange Pausen, dazwischen: nichts. Stille, Spannung, Atmen. Vielleicht vier Explosionen in über drei Minuten – kein Beat, keine Melodie. Hier ist das Schweigen nicht das Gegenteil von Klang, sondern seine Essenz.
Wer hier schon abschalten will, ist beim falschen Künstler. Wer aber bleibt, wird belohnt – oder zumindest erschüttert. Denn „Bar Open“ wirkt wie ein akustischer Reset-Knopf. Alles, was danach kommt, hat diese Leere als Ursprung.
5. Die Stimme des Kapitäns – Brötzmanns Gesang als apokalyptisches Signal
Und dann ist da noch seine Stimme. Kein klassischer Gesang. Kein Frontmann-Getue. Sondern ein gebrülltes Flüstern, ein Befehlsruf aus einem sinkenden Schiff. Brötzmann projiziert sich nicht in die Welt – er sendet ein Signal aus einem inneren Bunker.
Er klingt wie jemand, der nie Gitarrenunterricht hatte – oder besser: wie jemand, der ihn absichtlich verlernte. Die Gitarre wird nicht gespielt, sondern befragt, gequält, manipuliert. Sie antwortet mit Kreischen, mit Störgeräuschen, mit Harmonien, die sich weigern, Harmonien zu sein.
Es ist, als ob ein außerirdisches Wesen zum ersten Mal dieses seltsame sechssaitige Werkzeug in die Hand nimmt – und dabei entdeckt, was es wirklich sagen kann.
6. Avantgarde als Zumutung – und als Notwendigkeit
Natürlich werden viele diese Musik nicht verstehen. Vielleicht 98% der Menschheit, so wird gemutmaßt, erwartet von Musik Melodie, Refrain, Mitsingbarkeit. Doch genau deshalb braucht die Welt Künstler wie Brötzmann. Menschen, die sich gegen das Glatte stemmen. Die Dissonanzen nicht fürchten, sondern als Sprache nutzen.
„It’s A Love Song“ ist ein unhörbares Album. Und doch: es zwingt zum Hinhören. Es ist sperrig, irritierend, unbequem – aber genau darin liegt seine Wahrheit. Die Welt ist aus den Fugen. Warum also Musik, die tut, als sei alles in Ordnung?
7. Der Soundtrack zur globalen Erschütterung
In einer Welt, in der politische Systeme wanken, Kriege lodern und die Klimakrise eskaliert, erscheint „It’s A Love Song“ wie ein akustisches Spiegelbild kollektiver Angst und privater Ohnmacht. Die Klänge sind wie Scherben, in denen man sich schneiden kann – aber auch: Fragmente, in denen man sich erkennen kann.
Brötzmanns Massaker hat die Form gefunden, die es immer gesucht hat – radikal, roh, direkt. Er beschönigt nichts, filtert nichts, erklärt nichts. Aber genau das macht seine Kunst notwendig.
8. Was kommt danach? – Ein Blick in die Zukunft
Ein neues Studioalbum von Caspar Brötzmann Massaker ist angekündigt – irgendwann 2026. Doch wer weiß, ob es jemals erscheint. Vielleicht ist „It’s A Love Song“ genau das richtige Statement zur richtigen Zeit. Ein Vorab-Ruf in die Dunkelheit, ein Test, ob noch jemand zuhört. Und ob es ein Echo gibt
Wer Caspar Bötzmanns „Koksofen“ (1993) mochte oder sich mit Einstürzende Neubauten (das ehemalige Neubauten-Mitglied FM Einheit findet sich in den Danksagungen wieder) der frühen Jahre auf Du und Du fühlt, wird hier Heimat finden. Alle anderen? Müssen sich entscheiden: Ohren verschließen – oder sich öffnen für eine Musik, die nicht gefallen will, sondern erschüttern.
9. Fazit: Lärm als Liebe, Krach als Katharsis
Was bleibt? Eine Platte mit drei Tracks. Zwei Städte. Zwei Versionen. Ein Intro. Dreißig Minuten Verstörung. Dreißig Minuten Wahrheit. Und der unausgesprochene Imperativ: Hör hin, auch wenn es wehtut! Vielleicht gerade dann.
Caspar Brötzmann hat nie auf Massentauglichkeit gezielt. Aber mit „It’s A Love Song“ gelingt ihm etwas Größeres: Brötzmann verwandelt die Dissonanz der Welt in ein künstlerisches Statement – radikal, aufrichtig, unerbittlich.
Und vielleicht ist genau das Liebe. Nur eben nicht die, die wir gewohnt sind. Sondern die, die uns fehlt.
Das Vinyl kommt in ansprechender Verpackung, mit Gratis CD und ist einwandfrei gepresst und lässt den rauen Sound kraftvoll und wuchtig frei. Beim feinen Label Exile on Mainstream Records steht „It’s a Love Song“ seit Juni im Lager.
So kann es vorkommen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens, die Platten in seltenen Fällen vergriffen sind.
Dazu gibt es für mich keine Alternative: über Platten schreiben, in dem man die Pressetexte abschreibt ohne die Platte in den eigenen Händen gehalten zu haben, macht für mich keinen Sinn. Danke für euer Verständnis.