Immer wieder erfreut es mich, wenn neue Musik auf meinem Plattenteller landet. Wobei “neu” dieses Mal tatsächlich relativ ist. Für mich jedenfalls war es das erste Mal, dass ich von Leyla McCalla hörte, umso mehr überraschte es mich, als ich dann las, dass es sich bei dem mir vorliegenden Langspieler bereits um ihr fünftes Studioalbum handelt. Mit “Sun Without the Heat” veröffentlicht die in New York City geborene Künstlerin am 12. April 2024 ein Album, das sowohl Leichtigkeit als auch Tiefe verkörpert. Musikalisch wird dabei nicht nur das Ohr, sondern vor allem auch der Geist angeregt. Dabei vereint die Platte eine Fülle von Einflüssen, die von afrodiasporischen Traditionen bis hin zu modernen intellektuellen Bewegungen reichen.
Schon der Titel des Albums, “Sun Without the Heat” deutet auf ein Paradoxon hin – eine Sonne ohne Hitze, ein Licht ohne Brennen. Diese Dualität zieht sich durch das gesamte Album. McCalla spielt mit den Gegensätzen von Schmerz und Freude, Schwere und Leichtigkeit, was beim Hören ein sowohl meditatives als auch erfrischendes Erlebnis bietet. Diese Dualität findet sich auch in den Texten wieder, die oft von persönlichen und politischen Kämpfen handeln, gleichzeitig aber Hoffnung und Veränderung thematisieren.
Der Langspieler umfasst zehn Songs, die sich stilistisch und thematisch an der afrodiasporischen Musik orientieren. Die erdigen Klänge ihres Cellos sowie ihre Fingerfertigkeit auf dem Banjo und der Gitarre verleihen dem Album eine organische Textur, die sich wie eine musikalische Reise anfühlt. Dabei bleibt McCalla stets experimentierfreudig und lässt traditionelle Strukturen hinter sich.
Ein besonderer Moment des Albums ist der Titeltrack “Sun Without the Heat”. Dieser Song basiert auf einer Rede von Frederick Douglass aus dem Jahr 1857, in der er die Notwendigkeit von Veränderungen und die daraus oft resultierende schmerzhafte Natur der Transformation betont. McCalla greift diesen Gedanken auf und stellt ihn in einen modernen, persönlichen Kontext. “Wir alle wollen die Wärme der Sonne, aber nicht jeder will die Hitze spüren”, sagt McCalla über den Song und verweist damit auf den oft unangenehmen Prozess des Wachstums und der Veränderung. Musikalisch sticht der Track durch seine äthiopischen Modalitäten und kraftvollen Rhythmen hervor, die den Text eindrucksvoll unterstreichen.
Was “Sun Without the Heat” besonders bemerkenswert macht, ist die Art und Weise, wie McCalla ihre musikalischen und intellektuellen Einflüsse miteinander verwebt. So sind in verschiedenen Tracks Einflüsse von Afrobeat und brasilianischem Tropicalismo spürbar, die sich mit McCallas unverwechselbarem amerikanischen Folk und Blues vereinen. Die Arrangements sind komplex, aber nie überladen, was McCallas Stimme und ihrem meisterhaften Spiel auf dem Cello, Banjo und der Gitarre genügend Raum gibt, sich voll zu entfalten. Ihre Stimme, mal sanft, mal voller Ausdruckskraft, zieht den Hörer in die Geschichten, die sie erzählt.
Lyrisch schöpft McCalla Inspiration aus den Werken feministischer Afrofuturisten wie Octavia Butler, Alexis Pauline Gumbs und Adrienne Maree Brown. Diese Einflüsse geben dem Album eine weitere Dimension, denn McCalla nutzt das Songwriting nicht nur als Mittel zur Selbstreflexion, sondern auch als Weg, um Gemeinschaftsdenken zu fördern und die persönliche Transformation anzuregen. “Songwriting ist eine Möglichkeit, die Geschichten zu erzählen, die erzählt werden müssen”, sagt McCalla. In einer Zeit, in der die Welt oft düster erscheint, bietet “Sun Without the Heat” einen Hoffnungsschimmer und die Möglichkeit, über die Herausforderungen des Lebens nachzudenken und daran zu wachsen.
Zusammengefasst ist “Sun Without the Heat” ein Meisterwerk der musikalischen Balance. Es ist gleichzeitig ein Album der Gegensätze und der Einheit. McCalla beweist, dass sie nicht nur eine herausragende Musikerin, sondern auch eine Geschichtenerzählerin ist, die die Kraft hat, sowohl Herz als auch Verstand zu berühren. Wer bereit ist, sich auf die Reise einzulassen, wird mit einem Album belohnt, das nicht nur unterhält, sondern auch inspiriert. “Sun Without the Heat” ist ein Album, das man nicht nur hören, sondern auch fühlen sollte – es ist Musik für die Seele, die sowohl fordert als auch heilt. Ein absolutes Muss für alle, die tiefgründige, genreübergreifende Musik schätzen. Veröffentlicht wurde das Album über ANTI- Records und wer mag kann seine Kopie über JPC oder wahlweise auch Bandcamp erwerben.
Viel Spaß beim Hören!
Jan