Nennt mich Christian. Vor einigen Monaten – wie viele es sind tut nichts zur Sache – als mein Plattenregal so gut wie leer war und im Alltag mich nichts besonderes hielt, kam mir der Gedanke ich könnte ein bisschen was für Vinyl-Keks.eu schreiben und mir den musikalischen Teil der Welt zu behören.
Das ist so meine Art, den Trübsinn zu verjagen und die Säfte wieder in Fluß zu bringen. Immer wenn ich merke, dass ich grämliche Falten um den Mund bekomme, immer wenn müder, nieselnder November meine Seele erfüllt, immer wenn ich mich dabei ertappe, wie ich unwillkürlich vor Sargmagazinen stehenbleibe und hinter jedem Leichenzug hertrotte, der mir begegnet; ganz besonders aber, wenn Gift und Galle in mir so Überhand nehmen, dass ich all meine moralischen Grundsätze aufbieten muss, um nicht auf die Straße hinauszulaufen und den Leuten mit vollem Bedacht die Hüte herunterzuschlagen – dann halte ich’s für allerhöchste Zeit, Musik zu hören, und zwar sofort. Das ersetzt mir den Pistolenschuss.
“Wat is denn das für ne peinliche pathetische Scheisse, die der Typ da von sich gibt? Ich will wat von der Musik hören und mir nicht den Rotz aus’m gescheiterten Leben anhören, Dafür gibbet Seelenklempner…” So oder so ähnlich mag der oder die eine von euch denken, wenn er sich diese Einleitung hier durchliest. Und ihr hättet natürlich Recht, wenn der Einstieg in diese Rezension nicht eine minimal(?) veränderte Version der ersten Sätze eines Romans ist, der als Weltliteratur bezeichnet werden muss. Und diese ersten Sätze sind im in originaler Form einer der besten Romananfänge überhaupt.
Die bebrillten Literaturnerds unter euch wissen natürlich schon längst um welches Buch es geht, natürlich um Moby Dick von Herman Melville. Genau dieses Buch hat sich der Musiker Michael Moravek ausgesucht um es zu vertonen. Das ist nicht zwar ganz richtig, denn natürlich hat Moravek nicht das komplette Buch vertont, aber alle Lieder auf dem Album “November” sind inspiriert von diesem Roman. Die zehn Songs wurden geschrieben für das Theaterstück “November in my Soul”, welches wiederum auch von Moby Dick inspiriert wurde. Damit ist es natürlich ein lupenreines Konzeptalbum und, soviel sei schon verraten, ein richtig gutes.
Die grobe Handlung von Moby Dick kennt ja wahrscheinlich jeder: ein weisser Wal hat Kaptän Ahab das Bein abgerissen, dieser sinnt auf Rache. Er täuscht einen normalen Walfang-Törn vor, um eine Mannschaft zu finden, auf hoher See offenbart er seine wahren verrückten Absichten: Moby Dick finden und töten! Erzählt wird die Suche und die Jagd nach diesem weißen Riesen, aber auch die internen Streitigkeiten der Mannschaft sind elementares Thema.
Dies ist aber nur die äußere Handlung, im Roman wimmelt es nur so von Metaphern, Allegorien und Vergleichen. Verschiedene Fachsprachen treffen aufeinander; Religion, Gesellschaft, Philosophie und Literatur werden gedeutet, beobachtet und verglichen. Genau hier setzt der Sänger, Gitarrist und Songwriter Moravek bei seinen Texten an. Auf den ersten Blick sind es einfache Seemannslieder, die vom Sturm, vom Seegang, von dem Auseinandersetzen mit den Naturgewalten handeln. Aber es gibt natürlich Metaebenen und so kann man man in den Texten deutlich mehr finden. Den eigenen Narzissmus hinterfragen, Lebensziele definieren, Selbstreflexion betreiben. Eigentlich die Grundfragen der Philosophie: Was kann ich tun, was darf ich hoffen, was ist der Mensch…?
Aber keine Sorge, hier haben nicht Jürgen Habermas oder Richard David Precht unter einem Pseudonym eine Langspielplatte veröffentlicht, Michael Moravek kommt deutlich cooler und entspannter rüber als die beiden.
Dies liegt natürlich auch vor allem an seinen Liedern, die er selbst wahrscheinlich deshalb als Songs for Films bezeichnet, weil er gängige Genres vermeiden möchte. Aber es ist auch gar nicht so einfach hier ein Genre festzumachen. Wer bei Seemannsliedern an lauten Shantys, die zum mitgröhlen einladen, denkt, könnte nicht falscher liegen. Die Lieder auf “November” sind eher ruhige, fast schon düstere Indiefolk Nummern, die ihre Wurzeln im Blues, Soul und im Jazz haben. Dementsprechend summt man mit, man gröhlt nicht. Alte amerikanische Musik. Ruhig, aber doch hart. Traurig und schön.
Besonders die eingesetzten Posaunen erzeugen durch ihre langgezogenen Töne eine Atmosphäre, die unter die Haut geht. Sie wechseln sich ab mit dem feinem Gesang und dem sich immer wieder in den Vordergrund spielenden Klavier. Mit “Leviathan” gibt es aber auch ein Lied, das nur getragen wird von einer Orgel und der ins Mark gehende Stimme Moraveks. Sehr, sehr gut.
Auch das Cover, wie das gesamte Artwork, ist gut gelungen, besonders gefällt mir daran, dass hier überhaupt keine Anspielung auf Moby Dick zu erkennen ist. Der Künstler auf einem Pferd vorne drauf, hinten die ganze Band mit Pferden. Ein klischeehaftes Seefahrer Bild hätte viel kaputt gemacht, deshalb bin ich froh, dass hier dieser Bruch begangen wird, denn er passt gut zu dem ganzen Konzept. Wer sich mit den Texten beschäftigen will findet viele solcher Brüche, wer einfach nur atmosphärischen Songwriterkram hören will, wird auch mehr als zufriedengestellt. Der Großteil des Albums wurde live eingespielt, was das Ganze noch organischer werden lässt.
Digital ist dieses Meisterwerk bereits im Januar erschienen, coronabedingt erschien die LP verspätet erst im Mai, was ein bisschen schade ist, da dieses Album keine klassischen Frühlings-oder Sommergefühle hervorruft. Nichtsdestotrotz ist dem Label Backseat hier ein ganz großer Wurf gelungen, welcher sich hoffentlich auch in den Verkaufszahlen widerspiegeln wird.
9 von 10 Punkten
Zu kaufen gibt es das Album unter anderem hier: jpc
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