Wir befinden uns im Jahre 2022 n.Ch. und ganz Deutschland ist von Weihnachtsmännern besetzt. Ganz Deutschland? Nein! Eine von unbeugsamen Musikredakteuren bevölkerte Musikredaktion hört nicht auf, den Weihnachtsmänner Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die Weihnachtsmänner, die als Besatzung in den befestigten Weihnachtsmärkten im Norden, im Westen, im Osten und im Süden des Landes liegen…
So könnte die Geschichte eines kleinen, aber feinen Online-Musik-Mags lauten, welches auch in diesen Tagen der „24/7-Weihnachts-Besinnlichkeits-Beschallung“ versucht, die Flamme der guten Musik hoch zu halten. Und so referiere ich heute ein wenig über eine spezielle Split-Platte der beiden Bands RAEST aus Deutschland und Enemigxs Del Enemigo aus Costa Rica. Beide Bands haben Ladies am Mic und sind sich daneben im Musikstil sehr ähnlich, so dass man durchaus eine gewissen Homogenität beim Abhören des Vinyls erkennen wird.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass die jeweiligen Aufnahmen in den Phasen des Covid-Lockdowns entstanden sind. Vielleicht ein Grund für die energiegeladenen Vorträge der Musiker. Bei RAEST war es im Februar 2021 und bei den Kollegen von Enemigxs Del Enemigo im Jahr 2020. Gleich drei Labels sind an diesem feinen Co-Release beteiligt: Black Mojito, Aktitud Koherente und Raccoone Records. Ein Teil der Einnahmen spendet man an Operation Solidarity. („We are Operation Solidarity – a network of anarchists working on the principles of mutual aid and solidarity. We operate locally in Ukraine and have support in other countries. We support comrades on the run and on the ground and try to cooperate with grassroots initiatives in Ukraine and on the borders to create networks of solidarity.“) Eine tolle Aktion, wie ich finde.
Ich beginne mal mit den Enemigxs Del Enemigo (Feinde des Feindes) aus San José, Costa Rica, die völlig zügellos durch ihren Anarcho-Punk wie eine Büffelherde galoppieren! Völlig ungebremst schlagen die sieben Song-Torpedos im Gehör des Hörers ein. Die Kapelle kennt nur Vollgas – Medium scheint hier als Tempo nicht zu existieren. Als Folge kommt eine ungewohnt brachiale Gewalt aus den Boxen, welche die Zuhörer*innen wie ein Tsunami extrem pogotauglich mitreißt.
Als Stilmittel setzen Enemigxs Del Enemigo zusätzlich auf einen Wechselgesang von Sängerin und Sänger, was nach meiner Meinung sehr zum zornigen Vortrag der Band passt. Herrlich die Arbeit des Trommlers der Kapelle, der streckenweise auf den fellbespannten Gerätschaften wahre Maschinengewehrsalven abfeuert. Wie es scheint, haben sich hier Enttäuschung, Wut und Zorn aufgeladen. Aber es gibt auch das klare Bekenntnis, Kante zu zeigen und dagegen zu halten…
Un dia llegará sún tengo esperanza, Un dia llegará pero hay que luchar!
Diese Zeile bedeuten, eines Tages wird es soweit sein, ich habe noch Hoffnung. Eines Tages wird es kommen, aber wir müssen kämpfen. Das zeigt die Attitude der Enemigxs Del Enemigo. Gefällt mir gut. Die lassen sich nichts sagen und schon garnicht den Geist und den Munde verbieten. Diese Punk-Guerillas sind heiß wie Jalapeños!
Wir drehen die Platte mal um und schauen in Köln (die Stadt mit der kleinen Bahnhofskirche) bei RAEST vorbei. Wie die Kollegen aus Südamerika sind auch RAEST ein Quartett mit einer politischen Message und Statements. Auch RAEST sind auf maximaler Warp-Geschwindigkeit und spielen einen Raw-Punk, der die Nachbarn vermuten läßt, dass in deiner Wohnung eine Herde Nashörner Formationstanzen übt! Der lokale Wetterbericht meldet Ausläufer von D-Beat mit brutalen Hardcore-Riffs bei gleichzeitigem Bass-Gewitter. Also alles, was Spaß macht.
Auch RAEST fahren zwar auch gerne mit dem Pedal auf dem Blech durch die Einbahnstrasse, aber lassen doch einigen Wechsel beim Tempo zu, was zum einen musikalische Spannungen aufbaut und zum anderen den Freiraum für musikalische Einlage wie kurze, prägnante Gitarrensoli erzeugt. Das deutlichste Wiedererkennungsmerkmal ist – so finde ich – der Gesang von Frontfrau Lilo, in den die Saitenspieler Julian (Gitarre) und Bene (Bass) unterstützend einfallen.
Bullenstaat und Regression, die Wut in unsren Köpfen hallt. Lohnarbeit und Mackertum – diese Ordnung ist Gewalt!
Die Zeilen aus „Luftballon“ zeigen, dass RAEST kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern frontal auf die inakzeptablen Zustände im Staat und Gesellschaft aufmerksam machen und ihren Kommentar zur Lage der Nation zum Besten geben. RAEST decken schonungslos den Rassismus, den Sexismus sowie den „neoliberalen“ Zustand auf. Musikalisch und textlich ein richtiges Brett zum Debüt. Chapeau!
Resümee
Die beiden Kapellen sind sich nicht nur im Genre einig, sondern auch im Geiste. Man läßt keine Zweifel über seine Haltung zum Staat. Die strikte Ablehnung vom Denken und Handeln in Grenzen gleich welcher Art: Sexismus, Rassismus und Abschiebung. Insbesondere Enemigxs Del Enemigo haben in ihrem nationalen Kontext Einiges zu erzählen über politische Korruption, Ausbeutung von Mensch und Natur, kapitalistische Interessen. In diesem Zusammenhang der politischen Aussagen ist es sehr hilfreich, dass die Bands alle Texte in deutsch und spanisch auf einem Textblatt mitgeliefert haben (zu dem weiß ich jetzt, was vomito en un rayo bedeutet). Dazu schmückt ein Sticker von jeder Band die Beilagen des auf 300 Kopien limitierten Tonträgers. Klasse Paket.
Wenn man also mal die volle Dosis an HC-Punk benötigt, mit der Gesamtsituation unzufrieden ist oder mal mit den Nachbarn Musik hören möchte ohne diese einzuladen – dann, und genau dann greift bitte zu. RAEST und Enemigxs Del Enemigo spielen und schreien sich die Seele aus dem Leib! Hier stehen alle Weichen auf Durchfahrt für einen Schnellzug.
Insgesamt 12 wunderschöne – wenn auch kurze heftige – Ausbrüche stecken in dem extravaganten Cover. Eine Ratte hält ein entzündetes Streichholz aus einem Irokesentotenkopf, der Munition im Strahl kotzt. Geht es noch Besinnlicher zu Weihnachten? Ich denke: Nein! In diesem Sinne: anschaffen das Teil!
Übrigens: diese Energie gibt es für wenig Geld. Auch ohne Deckelung und Doppel-Wumms!