“Bootstour” klingt nach Spaß, insbesondere, wenn es sich um Bootstouren mit Live-Musik handelt, die es schon seit Jahren auf Rhein und Elbe gibt. Felix Triebel, umtriebiger Badener ist Musiker bei den legendären pADDELNoHNEkANU, stilsicherer Herausgeber der ProvinzPostille, innovativer Labelchef bei Krachige Platten und fantastischer Redakteur beim feinen online Musik-Magazin Vinylkeks, betrachtet eine Einladung zu nautischen Konzerttagen als besondere Ehrung.
Noch besser wird eine solche Einladung, wenn es zu den Eintrittstickets eine 7inch gibt, die nur auf dieser Bootstour als käufliches Exemplar erhältlich und somit quasi mit Verkauf direkt zur Sammler-Rarität aufsteigt. Die Idee dazu hatte schon vor Jahren das Team Peppone, das mit dem Major Label, der „Bootstour“ die Kirsche auf der Torte spendierte.
Das vorliegende Tape zur Bootstour sollte ursprünglich mit Ben Racken aus Magdeburg, Panikraum aus Mönchengladbach und pADDELNoHNEkANU aus Baden Banden im September 2021 stattfinden. Die Älteren werden sich noch erinnern, es kam anders und es kam heftig: zum Schutze der Menschheit fiel die Bootstour ins Wasser, die Single erschien als Geisterschiffedition und ist inzwischen vergriffen.
Im März 2023 war es dann soweit, die MS Marco Polo stieß von den Landungsbrücken der Elbe in Magdeburg ab. 100 mutige Passagiere waren Augen- und Ohrenzeugen dieser dritten Bootstour. Es gab eine neue 7inch, mit neuen Songs der Bands und so wurde die liebgewonnene Tradition beibehalten. Leichtmatrose Felix Triebe war so clever und hat seine Aufnahmeequipment mit an Bord genommen, so dass uns neben der 7inch das Konzert als Tondokument nun vorliegt. Zum Verständnis, die MC enthält erste die Tracks der 7inch und anschließend das Live-Set der Bands (Felix sei Dank).
Den Auftakt auf dem Tape – also dem 7inch – machen Ben Racken schöner, schnörkelloser German Punk aus Magdeburg. René “Tuba” Freyhold Gesang und Gitarre (ex- Invisible Art, Ernährungsfehler), Nico Zeplin Bass-Gitarre (ex- Ernährungsfehler) und Paule am Schlagzeug bilden das aktuelle line-Up der Band, die sich 2008 gründetet. Die Band entstand sozusagen direkt im Nachgang der zweiten und endgültigen Auflösung von Ernährungsfehler. Ben Racken bewegen sich musikalisch zwischen Düsterpunk à la EA 80 und Diskurspunk älterer und neuerer Hamburger Schulen.
Ben Racken starten ihr Live-Set mit “Ausspucken” einem Song, den nach eigener Aussage von Ben Racken pADDELNoHNEkANU als Cover-Version (zu finden auf “15!”) besser gespielt haben als Ben Racken selbst. Nach einigem Üben, ist man vom Ergebnis so überzeugt und stellt den temporeichen und krachen Song direkt in die erste Reihe. Es folgen “Am Ende” ein basslästiger Song, der zum Mitsingen und Tanzen einlädt und ohne Übergang in “Kolibri” übergeht.
Nach dem “Eisgarten” auch live an Abräumen ist, folgt das großartige “Die, die noch da sind sind”. Ein Song der die Bandbreite der Band sehr schön aufzeigt: die musikalische Reife im Songaufbau, des Songwriting und in den Texten. Einen weiteren Höhepunkt setzen Ben Racken mit “Keine Zeit darf ewig dauern”.
Das Live Set sowie die Songs der 7inch enthalten diverse unveröffentlichte, tolle Songs. man darf gespannt sein, ob der ein oder andere Track sich auf dem kommenden Album “V” (Release-Date: 13. September 2024) wiederfinden wird (?).
Panikraum aus Mönchengladbach, der Heimat des geilsten Klubs der Welt, steuern den zweiten Song der 7inch bei: “Von allen Zwängen”. Panikraum unterstreichen ihren feinen, melodiösen Punkrock mit emotionalen Texten aus dem Leben. Das Quartett aus der Vitusstadt besteht aus Gitarre und Gesang: Alexander an der Gitarre (Die Strafe), Markus spielt auch Gitarre, Bass und Gesang kommen von Jasper und für den Rhythmus sorgt Nico (Stiller, EA80) am Schlagzeug.
Panikraum eröffnen ihr Liveset direkt mit mitreissenden Song “Meinung macht”. Er geht voll auf die Zwölf und zeigt gleich wo der Kompass von Panikraum steht: Punkrock mit Melodie und Meinung. “Klotz am Bein” haut in die gleiche Kerbe und hält das Tempo hoch, bis bei “Flucht und Verzicht” der Maschinenraum ein wenig die Bootstour drosselt.
Der Live-Auftakt von “Von allen Zwängen” verspricht einen großen Song und die Band hält das Versprechen ein: ein toller Beat, unterlegt mit Gitarren-Melodien findet den Weg in das Ohr jedes Passagiers der Bootstour (auch der Blinden). “Nadelstiche” und “Pech und Frevel” gehen direkt in die Beine des Pogo-Publikums und machen einfach nur gute Laune.
Kurz wird durchgeatmet, bevor das Quartett mit den Songs “Unbekannt” und “Feuer” wieder in ihr Fahrwasser kommt. Tempo, Melodie und aussagekräftige Texte wie in “Feuer”
“Aus Bewegung wurde Stillstand, aus Stillstand Frustration. Und dieser Zustand unerträglich, ein Funke reicht zur Explosion. Und heute spielen wir gemeinsam, ganz schweigsam ihr perfides Spiel und so schaust Du in das Feuer…”.
Den Abschluss des Panikraum-Sets, macht ein echtes Highlight: “Winter” kommt bedrohlich daher wie ein schaukelnde Boje vor dem Tsunami. Der melancholische Text, wird perfekt in Melodie und Tempo umgesetzt. Hier zeigen die Mönchengladbacher noch mal ihre Kernkompetenz.
Schnelle Musik mit deutschen Texten, aber ohne Plattitüden, eher nachdenklich, melancholisch und unkonventionell. Das sind die Merkmale der Baden-Badener Band pADDELNoHNEkANU. Deren aktuelles Line Up, besteht aus Saitenspiel und Gesang: Felix Frantic, Ole 1/2 an den Trommelfellen und dem Bassisten Tulle Tosend. Wie im Vinyl-Keks schon mehrmal erwähnt, feier ich die paddellosen Kanuten neben ihrer Musik für ihre Texte ab.
Das Live Set führt durch verschiedene Abschnitte und Reifegrade der Band. Hört man den Texten zu, und das sollte man unbedingt, schwanken pADDELNoHNEkANU kongenial zwischen den Erzählperspektiven. Da heißt es hinhören und Hirn einschalten. Musikalisch sind pADDELNoHNEkANU sowieso eine längt eingespielte Kapelle, die ihre Art des Post-Punks gefunden hat. Definitiv haben pADDELNoHNEkANU mal mit ihrem Wechselgesang, mal mit Mitsingen-Attitüde einen Weg ins Ohr des Hörers gefunden. Seit 2002 erfreuen sich pADDELNoHNEkANU steter Beliebtheit und können bereits auf eine respektable Werkschau veröffentlichter Tonträger zurückschauen.
Ihr Liveset eröffnen pADDELNoHNEkANU mit “Buchstaben” einem Song im reduzierten Tempo, der aber textlich zu glänzen weiß, um dann von ersten Punk-Song “Parmesanpolitik” abgelöst zu werden. pADDELNoHNEkANU sind eine erfahrene Live-Band. Sie spielen mit dem Tempo, streuen geschickt Breaks und Ansagen in ihren Vortrag ein.
“Drecksau” ist so ein perfekter Livesong, erst tänzelt derSong nur langsam, scheinbar planlos herum, die Gitarre nölt herum, während das Schlagzeug sich trollt und einen Beat sucht, bevor der Song durchstartet wie ein Jet-Ski im Nichtschwimmer-Becken und im Pogo-Gewitter endet. Einfach herrlich!
Melodramatischer Höhepunkt: die ehrliche Danksagung des Binnensee-Kapitäns Felix an die Verantwortlichen der Bootstour zu Beginn von “Cybertronic Ultra Bot”. Es folgt “Erlebnisbad”, der die Einfahrt in den Heimathafen mit donnernden Kanonen und bei voller Beflaggung krönt.
Insgesamt bilden die sechs Songs einen schlüssigen Vortrag, der auch beim Zuhören das Livegefühl toll vermittelt. Die Songs stammen unter anderem aus früheren Veröffentlichungen wie “My Button is Bigger Than Yours” oder “Endlich wieder Deutschpunk”, aber aufgepaßt: die Band ist nach eigener Aussage in den Vorbereitung auf eines neuen Albums, das aber erst in 2025 erscheinen wird.
Das vorliegende, handgemachte Tape enthält insgesamt 90 Minuten feinster Seemanns-Musik: 30 Minuten der neuen 7inch sowie jeweils 20 Minuten Live-Musik der Bands von der Bootstour III. Das Magnetband existiert laut Discogs in einer handnummerierten, limitierten Auflage von nur 42* Exemplaren. Es hat diesen absoluten authentischen Charme eines DIY-Produktes mit Potenzial zum Kult-Objekt. Das Tape liefert die sagenumwobenen 7inch ins Haus und wird durch die lebendigen Live Sets der Bands zum echten Roh-Diamanten. Die Tapes könnt ihr bei den Bands abgreifen.
Und wie Eingangs bereits versprochen: diese Bootstour macht Spaß! Dem Kapitän, dem Steuermann, den Matrosen, dem Schiffskoch, den Kapellen, den Passagieren … einfach allen! Also den blau-weißen Matrosenanzug angezogen, ab aufs Deck und feiern.
* Auf die vom Autor Douglas Adams bewusst unklar gelassene Frage „nach dem Leben, dem Universum und allem“, errechnete der größte existierende Computer in 7,5 Mio. Jahren als Antwort: 42. Zufall? Absicht? Verschwörung?
Vinyl ist für mich nicht nur Musik, sondern ein Erlebnis. Die von mir beschriebenen Alben, habe ich alle ausgepackt, angeschaut und angehört. Gerne auch mehr als ein Mal. Bei den Reviews mache ich mir immer ein eigenes Bild durch entsprechende Recherche und das konzentrierte Anhören. Das ist meine Art den Künstlern entsprechende Wertschätzung für ihre Kreativität und Kunst entgegenzubringen.
So kann es vorkommen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens, die Platten in seltenen Fällen vergriffen sind.
Dazu gibt es für mich keine Alternative: über Platten schreiben, in dem man die Pressetexte abschreibt ohne die Platte in den eigenen Händen gehalten zu haben, macht für mich keinen Sinn. Danke für euer Verständnis.
Lagartija Nick.