Die Ärzte haben am 23.10.2020 ihr neues Album mit dem Titel „Hell“ veröffentlicht und da es nicht nur innerhalb unserer Redaktion sondern auch in der Community zu verschiedensten positiven als auch negativen Diskussionen kam, haben wir uns überlegt, das neue Album aus beiden Sichtweisen zu besprechen. Diesem kleinen Special haben sich Marcel und Nico angenommen und werden Ihre Sicht auf das Album niederschreiben. Los geht es mit den positiven Aspekten.
Pro (Marcel):
Sind Die Ärzte Punks? Das können die drei vermutlich nur jeder für sich selbst beantworten. Ist ihre Musik Punk oder Punkrock? Dass die Frage nach ihrem Debütalbum „Debil“ aus dem Jahre 1984 überhaupt noch aufkommt, zeigt wie grotesk diese Diskussion ist. Fakt ist jedoch, dass die Ärzte seit Jahrzehnten mit dem Punkrockimage kokettieren. Auf ihrer Vorabsingle „Morgens pauken“ stellen sie ja selbst fest, dass inzwischen alles Punk ist, inkl. CDU wählen. Es gibt kein Schwarz, kein Weiß mehr. Die Grenzen sind schwimmend.
Bei Die Ärzte muss ich immer so ein wenig an das A-Team denken: „Sie wollen nicht ganz ernst genommen werden, aber ihre Gegner müssen sie ernst nehmen.“ Sie nehmen sich schon immer gerne selbst auf die Schippe, und nicht nur der Erfolg gibt ihnen recht, denn sie dienen als Vorbilder für Bands wie Kraftklub oder SDP, die sich auch nicht gerne auf ein Genre festlegen lassen. Immerhin: In fünf verschieden Jahrzehnten ein Nummer 1 Album hinlegen, ist vermutlich einzigartig.
Farin Urlaub behauptet selbst, dass „Hell“ das beste „Die Ärzte“-Album seit „Planet Punk“ aus dem Jahre 1995 ist. Soweit möchte ich nicht gehen, aber das liegt zum einen daran, dass die „Planet Punk“ mein absolutes Lieblingsalbum ist und alle Releases mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte die Zeit hatten, sich in meinem Gedächtnis und dem aller Hörer festzuspielen. Seit der „Geräusch“ aus dem Jahre 2003, wo ja immerhin das allzeit aktuelle „Deine Schuld“ drauf ist, verhält es sich bei Die Ärzte Alben bei mir wie bei gutem Wein: Je älter desto besser. Meine Ohren brauchten immer ein paar Jahre, bis mir die Platten gefallen haben.
Tatsächlich ist es bei „Hell“ anders. Der erste Durchlauf war noch durchwachsen und skeptisch, aber seit der zweiten Runde auf dem Plattenteller habe ich es voll und ganz akzeptiert und höre es seitdem sehr gerne und immer immer wieder. Kritiker werfen der Band gerne vor, dass es sich bei den einzelnen Songs nicht um Bandprojekte handeln würde, sondern um Einzelwerke der drei Protagonisten. Nun, kurz und knapp: Das ist richtig, doch war es nie anders, bis auf ganz wenige Ausnahmen, wie beispielsweise „Schrei nach Liebe“ oder der Corona Hymne „Ein Lied für jetzt“.
Die Ärzte sehen sich selbst als Berufsjugendliche und so sind auch ihre Songs für Menschen, die nicht erwachsen werden und dem grauen Alltag entfliehen wollen. Es ist immer noch leichte Kost für Partys von Teenagern, bis auf die Tatsache, dass diese tatsächlich nicht mehr die Zielgruppe sind. Mein ganz persönliches Highlight ist der Song „Ich, am Strand“ ein Song mit einer Leichtigkeit an Melodie, einer sommerlichen Mischung aus Reggae und Ska, und der es zeitgleich schafft, mir Tränen in die Augen zu treiben.
Für Menschen, die Die Ärzte immer noch als Punkverräter sehen, ist die Platte nichts. Das stand aber auch schon vorher fest. Für ihre Fans, wo auch der 60jährige in Reihe eins “Teenagerliebe” mit Glanz in den Augen mitsingt, ist es mehr als nur ein Lebenszeichen nach acht Jahren Abstinenz. Es ist eine Liebeserklärung an alle, die nicht erwachsen werden wollen und sich ein Stück Kind im Innern bewahrt haben.
Kontra (Nico):
Ich muss gestehen, dass ich Die Ärzte schon länger nicht mehr auf dem Schirm hatte, da diese mir in den letzten Jahren mehr und mehr zu poppig wurden und einen gewissen Volksmusik Charakter hinter sich her zogen. Ähnlich sehe ich es übrigens auch mit den Toten Hosen 😉 Die Ärzte waren in den 1990er Jahren mit ausschlaggebend, Bands wie den Böhsen Onkelz den Rücken zu kehren. Die Alben “Im Schatten der Ärzte”, “Die Bestie in Menschengestalt” und “Planet Punk” liefen zu dieser Zeit mehr oder weniger in Dauerrotation und ja, durch die Einflüsse habe ich viele Teile meines Lebens geändert und bin dadurch mehr und mehr zum Punk gekommen und bis heute dieser Einstellung treu geblieben. Leider sind das aus meiner Sicht Die Ärzte schon länger nicht mehr.
Warum?
Nun, wenn mein überaus konservativer Vater auf diversen Altherrenevents “Junge” auf übelste Art und Weise covert und mich zur damaligen Zeit noch für bekloppt gehalten hat, solch einen “Mist” anzuhören, dann muss da was passiert sein. Und nein, die ältere konservativere Gesellschaftsgruppe ist nicht plötzlich Punk. Eher haben sich Die Ärzte mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft bewegt und sind nun einfach nur noch Pop mit dem ein oder anderen verkürzten linken Text. Ja, die Band hat ihre Ideale privat sicher nicht verloren und steht nach wie vor für sehr viele positive Sachen ein, aber als Band sehe ich hier den Zenit überschritten und denke, ein positives Ende wäre besser, wie den Namen noch vollends mit unterirdischen Songs zu zerstören.
Aber was hat mich jetzt dazu bewogen, mir das neue Album zu kaufen?
Die Promotion der Band hat voll eingeschlagen und so habe auch ich mich verleiten lassen, die Doppel-LP vorzubestellen und zu schauen, was mich da erwartet. Alleine schon durch die Aufmachung in Form eines Buches war klar, dass ich auf jeden Fall einen Blick ins Buch werfen möchte und mich die Neugier am Ende doch sehr gepackt hat.
Pünktlich zum Veröffentlichungstermin ist dann das gute Stück auch direkt an die Haustür geliefert worden und ja, der erste Eindruck macht einen natürlich neugierig. Auch die Aufmachung sieht hochwertig aus und knüpft an die Special Aufmachungen der “Jazz ist Anders” und “Auch” an. Die Jungs hatten schon immer ein kleines Faible für ausgefallene Sachen.
Plastikfolie abgelöst, stehe ich doch direkt vor dem ganz großen Problem das das Vinyl ums Verrecken nicht aus der Hülle will. Mit etwas Kraftaufwand wurde dies dann gelöst, allerdings mit dem Haken, dass nun auf beiden Seiten beim jeweiligen ersten Song ein schöner Kratzer zu sehen und leider auch zu hören ist. Dem nicht genug, betrifft das leider beide Vinyls und somit schon mal voll die Arschkarte direkt zum Anfang. An dieser Stelle hätte ich am liebsten das Ganze Ding in die Ecke geschmissen, denn die 35 Euro sind ja schon auch für ein Album eine Ansage und leistet man sich nicht unbedingt jede Woche. Nach einem kurzen innerlichen Aufschrei Platte eins auf den Schallplattenspieler gelegt, dachte ich erst, ich hätte hier ne Fehlpressung ergattert. Was um Himmelswillen ist denn das? Dieser Song namens “E.V.J.M.F.” erinnert mich an düstere Elektro-Kellerpartys, wo zum Rausschmeißer am Ende genau sowas gespielt wird.
Egal. Lief durch und weiter geht´s. Die nächsten Songs sind jetzt auch keine Highlights und waren alle schon mal irgendwann in ähnlicher Form vorhanden und können mich nicht wirklich begeistern. Es ist mir schon klar, dass eine Band, die es schon so lange gibt, irgendwann auch keine neuen Ideen hat und aus alt eben neu macht.
Die Lieder sind irgendwie belanglos und es gibt nichts, was ich jetzt als Interessant finden könnte. “Morgens pauken” ist da noch einer der besten Songs auf dem Album, da auch etwas punkig, aber eben für die Masse ausgerichtet.
“Einmal ein Bier” ist mit Abstand das schlimmste, was auf “Hell” präsentiert wird. Furchtbar. Sowohl musikalisch als auch textlich kaum zu ertragen. Nur “Fexxo Cigol” und “Alle auf Brille” toppen das noch. Was tue ich mir da nur an? Hilfe…
Dann werfe ich mal einen Blick ins Buch, denn das war ja der eigentliche Grund, warum ich mir das Album überhaupt bestellt habe.
Es werden auf stolzen 66 Seiten (hat die Seitenzahl was mit dem Cover zu tun?) einige schöne Einblicke in das Bandgeschehen, es werden die Texte in einer schönen Aufmachung präsentiert und alles in allem ist das eben ein Fotobuch. Viele der Bilder sind klar gestellt, aber das muss halt, denn das ist ja Punk …äh… Pop.
Da ich schon mehr Zeit mit dem Album verbracht habe, als es mir emotional und musikalisch wert ist, komme ich zum Schluss. Ja, ich muss feststellen das Die Ärzte anno 1982 nicht Die Ärzte von 2020 sind und sich da einige Dinge eher zum Negativen entwickelt haben. Wer auf subkulturelle Genres steht, ist hier eher schlecht aufgehoben. Wer sich allerdings mit Helene Fischer und Heino mit ansatzweise linken Texten identifizieren kann, der ist hier genau richtig. Von mir gibt es aufgrund der schönen Aufmachen des Fotobuches als Gesamtnote eine drei Minus.
Wer sich selber ein Bild vom Vinyl machen möchte, der kann sich hier direkt ein Exemplar sichern: jpc
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