Nachdem uns Jörg in der ersten Episode des Interviews schon mit in sein Reich genommen hat, könnt ihr hier lesen, wie das Interview weitergegangen ist.
Du hast ja erzählt wie früh du zur Musik gekommen bist. Wofür schlägt dein Herz denn heute?
Das ist sehr einfach zu beantworten. Ich liebe alles, was zwischen 1979 und 1986 erschienen ist und irgendwie mit elektronischen Klängen zu tun hat. Vielleicht treffen die Bezeichnungen Dark Wave und Synthipop es ganz gut. Aber gerade aus dieser Zeit mag ich immer noch diese minimalistischen, elektronischen Sachen aus und um die Neue Deutsche Welle. Es darf dann auch mal schräger sein. Und gerne aus den deutschen Landen, das war immer so simpel und lustig. Ich habe aus diesem Bereich ein paar tausend Schallplatten und finde immer noch Vinyl, was Lücken bei mir oder weiße Flecken auf meiner Landkarte hinterlässt.
2018 kam der Plattenladen in Münster dazu, mit dem du dir einen Wunsch erfüllt hast. Es sollte ein Plattenladen sein, wie man ihn aus der Vergangenheit kannte. Was genau meinst du damit?
Das geht mit ein paar Begriffen: Flair – Geruch – Auswahl – Wissen – Underground. In meinem Laden stehen Kino-Sessel und eine alte Stereo-Anlage. Das Interieur erinnert ein wenig an die 50er/60er Jahre. Der Kunde soll sich vom Eintritt an wohlfühlen. Neben dem reinen Plattenverkauf mache ich ein Event, das sich “Band im Schaufenster” (The Living living room) nennt, wo dann die Band oder der Künstler auf anderthalb Quadratmeter im Schaufenster spielt, während sich draußen oder natürlich auch drinnen das Publikum aufhält. Tolle Sache – ist bisher immer gut angekommen.
Ich denke nach und wir plaudern ein wenig über unsere Lieblingsplattenläden der Vergangenheit und stellen fest, dass das mittlerweile längst geschlossene “Last Chance” aus Dortmund uns beiden bekannt ist und sich Jörg auch daran ein wenig orientiert hat.
Die Verkäufer hatten immer irgendwelche Geheimtipps, Neuigkeiten und man konnte stundenlang in den Regalen stöbern oder mit dem Personal oder anderen Kunden fachsimpeln. So halte ich es auch. Es kann durchaus sein, dass mal ein Kunde den Laden ohne Kauf verlässt, wir aber uns prächtig unterhalten haben. Das gehört für mich zum Erfolgsrezept unbedingt dazu. Es herrscht kein Kaufzwang und im Gegensatz zu den jungen “Nachwuchs”, die mit geöffnetem Laptop an der Theke stehen, weiß ich so, was in meinem Laden steht und welche Geschichte zu welcher Platte gehört. Übrigens habe ich so manchen Ex-Last Chance Kunden bereits in Münster begrüßt. 90% meiner Kunden stammen aus dem Pott oder Umfeld wie Dortmund, Hamm, Oberhausen, Bocholt und dem Sauerland (Woll?). Der Rest stammt aus Münster, also eine eher kleine Klientel. Ich schätze mein treuester Kern an Stammkunden ist eine Gruppe zwischen 20 und 25 Personen, die regelmäßig einmal im Monat bei mir auftauchen.
Zu den wirklichen beeindruckenden Erlebnissen mit Kunden gehört ein Typ aus New York, der sich fünf Stunden in meinem Laden aufgehalten hat und immer wieder erzählte wie toll das Angebot im Laden sei. Er hat ordentlich an meiner Spezialitäten-Wand zugeschlagen, wo ich die ein oder andere Rarität angeboten hatte (und noch habe). Der Kunde hat wirklich mit Freude eine Menge Geld ausgegeben. Ein ähnlicher Kunde aus San Diego kam mittags in den Laden und eröffnete mir, er sei auf Record Shopping Tour in Germany und ich sei seine Nummer zwei. Er blieb bis sieben Uhr abends und hat auch kräftig eingekauft.
Ein schönes Erlebnis ganz anderer Art war eine Dark Wave DJane aus Malaysia, mit der ich nach dem Set ins Gespräch gekommen bin. Dabei habe ich ihr von dem Laden erzählt und sie war so begeistert, dass ich den Laden noch mal zu später Stunde für sie geöffnet habe, damit sie sich mit entsprechendem Material eindecken konnte. Ich meine, für solche Momente lebt man als Plattenladenbesitzer.
Ein früher Track “Kalte Sterne” der Einstürzenden Neubauten, einer der Bands, die Jörg im ersten Teil des Interviews zu seinen frühen Fave-Bands zählte.
Nun ist ja klar, so ein Angebot kommt nicht von alleine. Du wirst selbstverständlich aktiv für entsprechenden Nachschub sorgen müssen. Woher kommt deine neue Gebrauchtware?
Ehrlich gesagt funktioniert da einiges von alleine. Ich bekomme unregelmäßig Angebote über das Internet rein. Der Rest geht über Vitamin B. Dass heißt jemand kennt jemanden, der sich von Schallplatten trennen möchte. Das sind häufig Sammlungen zwischen 300 und 600 Stück, manchmal mehr, manchmal weniger. In Ausnahmen übersteigt es auch mal die tausender Grenze. Da muss man schon auf Zack sein, wenn man sich vor Ort ein Bild über die Qualität der Platten und der Cover machen möchte. Es gibt den Typ Mensch, den man da wirklich vertrauen kann, anderen muss man ein wenig auf die Finger schauen. Manche denken sogar, sie hätten das große Los gezogen und kommen mit fünfstelligen Summen um die Ecke. Aber es soll ja entspannt sein und jeder zufrieden.
Hast du ein Beispiel dafür, dass du mal richtig daneben gelegen hast?
Es gibt immer wieder schlechte Menschen, die andere mit krummen Machenschaften hinters Licht führen wollen. Auch hier lernt man nicht aus, dass kommt auch noch mit über 35 Jahren Erfahrung vor. In der Plattenbranche leider immer öfter, man muss schon aufpassen.
Schauen wir mal auf positive Erlebnisse, hast du mal ein „Schatz“ im Sinne einer wertvoller Platte gefunden?
Ich weiß, was du meinst, aber ich finde auch ganz andere Schätze in den Sammlungen. Es ist unglaublich, was die Leute in Plattenhüllen vergessen oder bewusst verstecken. Meine Top Neben zahlreichen Fotos – gerne auch unbekleidet – auf Platz drei, der Taufschein in der Plattenhülle. Auf Platz zwei landet die Sieger-Urkunde eines Sportwettkampfes aus Rostock. Meine absolute Nummer eins ist eine schneeweiße Innenhülle, auf der man deutlich erkennen kann, dass jemand einen Wohnungsgrundriss skizziert und beschrieben hat und an einer Stelle der Wohnung sich ohne Zweifel ein Blutfleck befindet. Sehr strange! Übrigens hängen einige dieser Schätze an meiner Pinnwand im Laden. Daneben gibt es so viele kleine, interessante, meist persönliche Dinge, dass ich schon überlege, diesen Beifang als Buch zu veröffentlichen.
Aber zurück zu deiner Frage nach dem Schatz. Auch das ist mir schon passiert. Ich hatte einen Nachbar, der beim Ausszug eine Bananenkiste voll Platten (meist Schlager und K-Tel Sampler!) in den Laden stellte. Beim späteren Durchsehen der Platten fiel mir eine LP einer schwedischen Death Metal Band aus 1983 auf. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine auf 300 Stück limitierte Auflage, von der aber eine Fehlpressung über zwanzig Stück existierte. Das interessierte mich natürlich. Ich fing an zu recherchieren und nach ein paar Stunden war ich mir sicher. Bei der Fehlpressung handelt es sich um ein farblich abweichendes Cover, auf dem der Teufel, nicht wie auf dem Original rote, sondern goldene Augen hat. Ich schaute mein Cover an und sah in satanische, goldene Augen! Ich hielt eine Schallplatte in der Hand, von der es nur zwanzig Exemplare auf dem Planeten gibt. Sogar alle Beilagen waren noch da und handschriftlich mit Notizen versehen. Der Wert der Platte war sehr hoch taxiert. Ich dachte auf dem Heimweg darüber nach, ob sich tatsächlich dafür ein Käufer finden würde. Und es fand sich ein Käufer! Und ja, er war überglücklich! Es dauerte keinen Tag, die LP ging nach Amerika. So ist das Leben…..
Bärchen und die Milchbubies mit “Tiefseefisch” erwärmten schon früh das Herz von Jörg.
Das ist wirklich eine unglaubliche Geschichte. Wie verhältst du dich deinen Kunden gegenüber? Bist du ein guter Berater? Gibt es Kunden, die dich nerven?
Mir sind die Kunden lieb, mit denen ich mich austauschen kann. Worüber auch immer, aber eine gewisse Kommunikation zum Thema Musik ist für mich einfach ein Teil des Ganzen. Selbstverständlich kann ich potentielle Kunden beraten, in dem Sinne, dass ich die „richtige“ Platte für sie herausfinde. Da nähert man sich stufenweise an. Das lernt man mit den Jahren. Mich nerven – gibt es nicht ;-).
Ein Erlebnis was nicht so schön war, ereignete sich seinerzeit mal in meinem Plattenladen, als in einer Mittagspause zwei gestriegelte Herren in teuren Anzügen und Aktentasche bei mir auftauchten. Ich dachte hmm, interessant – neue Kunden. Ich beobachtet sie, wie sie im Verkaufsraum mal hier und mal da durch das Angebot blätterten ohne sich wirklich für etwas zu interessieren. Im Hinterraum meines Ladenlokals, fühlten sich die beiden unbeobachtet und ließen tatsächlich zwei Schallplatten in der Aktentasche verschwinden. Scheinbar unbeteiligt verließen sie dann den Laden. Ich habe nicht eingegriffen, weil ich mir im Stillen, dachte, wenn ihr das nötig habt Leute… Kopfschütteln. Natürlich ist das Duo nie wieder aufgetaucht. By the way, letztes Jahr hat mal einer versucht, eine komplette Kiste mit dem Rad zu klauen. Hahahaha, der hat sich aber gewundert. Ich habe ihn durch einen Spurt nach ca. 300 Metern eingeholt und die Kiste zurück erobert! Filmreif…musste aber auch `ne halbe Stunde danach japsen! (lacht)
Gottseidank ist der größte Teil meiner Kunden sehr nett und ehrlich und ich freue mich wirklich über jeden, der sich in meinen Laden verirrt oder bewusst kommt.
Bei dem ganzen Aufwand, frage ich mich wirklich wie du das neben Familie und Beruf hinbekommst? Braucht man da keine Hilfe? Hast du Angestellte?
Wie schon an anderer Stelle erwähnt, gab es wirklich kurze Nächte von nur drei bis vier Stunden Schlaf. Mein Bruder hilft mir sehr oft und Heinz ist ja auch noch da. Ansonsten bin da auch ein wenig eigen. In der schweren Zeit hat mir neben Heinz meine damalige Freundin geholfen. Heute hilft mir mein Bruder mittwochs im Laden, während ich dort freitags und samstags zu finden bin. Aber auch meine bereits erwachsenen Kinder unterstützen mich. Und nicht vergessen will ich meine jetzige Lebensgefährtin, die mich in vielen Belangen unterstützt und mich antreibt weiter zu machen. Man sieht es ist doch auf einigen Schultern verteilt. Im Moment würde ich sogar so weit gehen, dass ich den Laden, den Versand und die Labels bis zum Ende führen möchte. Ich habe mittlerweile für alle Arbeiten funktionierende Strukturen und komme damit wirklich klar.
Die fantastischen Kosmonautentraum mit “Deutsche Nacht” sind ein weiteres Beispiel für Jörg’s frühe musikalische Vorlieben.
Was wäre denn noch ein Wunsch oder Ziel, das du dir erfüllen möchtest? Ich würde gerne einen Laden von entsprechender Größe haben, in denen ich alle meine Interessen unterbringen könnte. Laden, Label, Versand, ein Studio und eine Werkstatt, wo ich künstlerisch tätig werden kann. Viele der Plattencover gestalten wir oder Freunde selbst. Aber auch ein Leben in Kanada wäre toll. Das würde ich sogar ohne Schallplatten-Laden machen. Aber man weiss ja nie, was noch so auf einen zukommt.
Das ist ja kaum zu glauben, dass du ohne Vinyl leben kannst. Aber gut. Wie groß ist heute deine private Sammlung und welche fünf Schallplatten würden zum Beispiel ins Gepäck nach Kanada kommen?
Puh, meine eigene Sammlung ist so im fünfstelligen Bereich, also schon recht groß. Schwierig. Diese Menge hat in der Summe schon so ein Gewicht, so dass sich mein Haus sogar schon gesenkt hat (lacht).
Aber nun zur Frage nach den Alben, die mit ins Gepäck müssten. Allerdings ohne Ranking… Kraftwerk “Wir sind die Roboter”, Grobschnitt „Solar Music“, Extrabreit „Welch ein Land – Was für Männer!“, Hammerfest „Hier bei uns“, Jane „LADY“ und AC / DC „Highway to Hell“… und natürlich noch die ein oder andere LP/Single und mein komplettes Kernkrach-Programm. Man kommt dann so auf ca. 400-500 Platten würde ich sagen.
Das ist schon ziemlich verrückt. Machen „gesunde“ Menschen so etwas? Ein wenig verrückt muss man da schon sein, oder?
„Gesund” was ist das? (lacht) Die Liebe zur Schallplatte oder zur Musik ist wie eine Art Droge – aber völlig ungefährlich! Das Leben ist einfach zu kurz und Musik und Schallplatten, sind doch etwas Wunderbares. Menschen, die damit nichts anfangen können, haben echt etwas verpasst.
Wie sieht es denn bei dir aus, hast du bei der Größe deiner Sammlung noch Erfolgserlebnisse bei der Jagd auf unentdeckte Platten?
In der Tat ja. Und obwohl ich gerade bei den Singles dachte, ich wäre ganz gut unterwegs, finde ich immer noch welche, die ich nicht kenne. Neulich entdeckte ich in der Leserille (nochmals großen Dank HG! Hans-Georg Lehnert ist Besitzer des Plattenladens „Leserille“ in Sundern, ein Interview mit ihm findet ihr auf Vinyl-Keks.eu) einige Singles – wunderbar!
Zum Abschluß, eine weitere Faveband, aus den frühen Jahren, die Freiwillige Selbstkontrolle mit “Was kostet die Welt”.
Zum Ende unseres Interviews, möchte ich nochmal wirklich dir Respekt zollen, wie strukturiert und nachhaltig du deine Idee des Kernkrach-Planeten in die Tat umgesetzt hast. Auch für deinen Schallplattenladen kann man dir nur Anerkennung zollen. Vielen Dank für das nette sehr unterhaltsame Gespräch.
Unter folgenden Adressen kann man Kernkrach erreichen:
Den Online-Shop: https://www.kernkrach.de
Den Laden: https://www.kernkrach-recordstore.de
Ich verlasse den Laden mit einem guten Gefühl. Hier lebt ein positiv Bekloppter seinen Traum. Und das nicht ohne Erfolg und Reaktion in den Medien. Zur Eröffnung gab es gleich mal eine halbe Seite im Szene-Magazin Ultimo. Aber auch Radio Osnabrück und Antenne Münster haben mit ausführlichen Features berichtet. Was bleibt ist eine nette Bekanntschaft, auf deren weitere Pflege wir uns beide freuen und der Tipp für den nächsten Plattenladen aus meiner Reihe: NRW – Deine Vinyl-Dealer: Jörg empfiehlt mir „Schneider LP-Shop“ in Bottrop. Na dann auf zu neuen Ufern, demnächst hier beim Vinyl-Keks.
Lagartija Nick Februar 2021
The second part is another good read for a grey snowy Sunday morning. I loved reading all the little stories about this record store.