Es ist 2033 und die Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung erlauben gerade den Eintritt in die Clubs. Corona bedingt hat sich mittlerweile ein veritabler Untergrund gebildet, große Stadientouren der großen Bands gibt es schon lange nicht mehr. Die Szene feiert jede Corona-Lücke durch ad hoc Events in sogenannten Safe Locations. Meist extravagante Schauplätze dienen der gut vernetzten Szene als Partytempel.
Ich verlasse einen Betonbunker, in dem früher Dr. Kernkrach seine Partys inszenierte, und blinzele ins Tageslicht. Die Drogen und der Alkohol haben mich aufgepeitscht, aber auch sehr müde gemacht. Wie immer frage ich mich, ob es das letzte Mal war. Und wie immer zünde ich mir die After-Show Havanna an und lächle beim Ausblasen des angenehm gewürzten Tabakrauchs “.. mal sehen, wie es weiter geht…”.
Auch diese Mal war die Playlist der DJ gespickt mit treibenden Electrobeats der eher minimalen Art. Gitarren spielen da schon lange keine Rolle mehr. Hier geht es um Tanzbarkeit – ein Beat muss in die Beine gehen, Texte sind entweder banal oder gar nicht vorhanden. Diese Art der Musik treibt die Massen wie eine Droge voran, Veranstaltungen dauern stundenlang oder ganze Tage. Die DJ sind zu wahren Götter aufgestiegen, Live-Musiker sind immer seltener. Musik wird im Home-Studio on the fly gemacht. Die Szene ist lebendig, kaum zu greifen, Namen spielen keine Rolle mehr.
Heute jedoch gab es ein Erlebnis, was in der Tat berichtenswert ist. In der durchweg jungen Liste der DJ, fand ich einen Namen wieder, der mich an die gute alte Zeit erinnerte: Dr. Kernkrach (alias Jörg Steinmeyer), ein Musikverrückter par excellence! Damals noch mit Schallplattenladen, Versand, Freizeit-Musiker und eben auch DJ. Wie dem auch sei, am frühen Morgen legte DJ Dr. Kernkrach seinen Set auf, und was passierte, war schon essentiell, die Masse der drogengeschwängerten Körper gab fühlbar noch mal Gas, jeder gab sein Letztes und wollte noch mal die Ekstase spüren, wenn sich der Electrobeat deines Hirn und Köpers bemächtigt und du dich völlig der Musik hingibst. Am Ende des Sets hab ich Jörg, meinen Kumpel von damals, abgepasst.
Ich war erstaunt, als er mir erzählte, dass er rein mit Vinyl – wie in der guten alten Zeit – aufgelegt hat. Der Sound war einwandfrei gewesen, gut ausgesteuert, im großen und ganzen perfekt an den Betonkubus angepasst.. Ich fragte dann noch mit Blick in die blitzenden Augen in einem Gesicht, dass das Nachtleben aller Städte der Welt gesehen haben musste, wie er denn an die neue Szene Anschluss halten könnte? Er lachte kurz auf, kippte einen Shot ein und zeigte mir aus seinem DJ Koffer ein Vinyl, dass er heute Abend mehrmals gespielt hat. Ich las “Mini Roboter 2”. Mmh? Auf der Rückseite konnte ich in dem schwachen Licht das Datum der Herstellung erkennen: 2021! Er sah mein erstauntes Gesicht und flüsterte mir zu; “Thomas, ich habe dir immer gesagt, ich spiele die Musik der Zukunft!” Ein kurzes schelmisches Lächeln und er verschwand im Dunkel der Nacht.
So könnte es passieren, denn im Kernkrach Universum, über das hier schon diverse Male berichtet wurde und auch die ein oder andere Platte auf dem Prüfstand stand, gab es schon immer sehr fortschrittliche Musik. Gerade diese Minimal Electronic Schiene wird von einer Szene weltweit geliebt. Man glaubt es nicht, aber diese Kernkrach Scheiben landen in den USA und sogar in Japan. Man könnte sagen, der Untergrund findet sich. Jörg hat immer seine Vision verfolgt und weicht auch mit dem neuen Sampler “Mini Roboter 2” keinen Millimeter davon ab. Vor einer Dekade gab es schon einen Roboter-Sampler aus gleichem Hause. Nun nach einer Dekade, wollte Jörg das Ganze also wiederholen. Der Meister rief und sechs Künstler und Bands folgten dem Ruf des Electro-Schamanen. Teilweise ganz neu gegründet, teilweise mit etwas Erfahrung – in jedem Fall mit einen ordentlichen Portion Zukunftsvision! In der Tat sind einige der Bands und Künstler im Netz sehr rar und schwer zu finden, so dass ich entschuldigen möchte, dass ich keinen der Liederbeiträge des Samplers als Video präsentieren kann.
Der Opener “Roboti” von BÊTES SAUVAGES wirbelt schon mal gut die Beine durcheinander. Straighter Beat und Unterlegung von Synthie-Minimelodien erinnern ein wenig an die Neue Deutsche Welle. Aber die Stimme der Sängerin reißt es völlig raus und macht klar, dass wir nicht in den 80ern des letzten Jahrhunderts sind, sondern am Zeitgeist. Die Stimme mit der slawischen Sprache und die Samples geben dem Song etwas Martialisches – es ist die erste Veröffentlichung der Band überhaupt!
Es folgt “Robot Raider” von Dada Pogrom, ein ebenfalls sehr straighter Electro-Beat, der sich fast militärisch exakt ins Hirn der Hörerschaft kloppt. Schöne Synthie-Fetzen umschweben die Beat Line. Der Text wiederholt zum größten Teil den Titel. Die Spannung des Songs, entsteht zwischen Beat und Synthie. Dabei erfreut man sich an eingespielten Samples, teilweise mit einer Roboterstimme, die an Kraftwerk erinnert. Ein Wahnsinnsteil, was in Endlosschleife laufen könnte. Dada Pogrom sind ein Duo aus Island und Kanada, der Titel stammt aus 2021.
Die erste Seite wird beendet von “Kondensator ausgelaufen” von Kondensator Ausgelaufen. Hier dominiert ein die Frequenzen wechselnder leicht nervierender Electro-Alarm den Song. Die Beat läuft schön durch, wechselt leicht mal die Höhen, bleibt aber die Konstante im Song. Dazu werden uns ganze Synthie-Harmonien kredenzt, die durch eine Vocoder-Stimme begleitet werden. Sehr interessanter Krautpop einer neuen Band aus Wipperfürth.
Seite B startet mit den Staatsfeinden aus den benachbarten Niederlanden und dem Song “Wir lieben Roboter”. Die Staatsfeinde starten in bester DAF-Beat-Manier. Sie singen mit technisch verzerrter Stimme und einer schönen hektischen Synthie-Untermalung. Dabei spicken sie ihre Liebeserklärung mit ein paar ironischen Zeilen wie “Wir machen freundliche Roboter, das ist unser Vorsprung. Roboter sind unser Leben.” Einfach herrlich. Klick Klick.
Es folgt Hans Uran mit seinen “Minirobotern”, der seine geflüsterten Worte zu einer sehr technischen Untermalung zum Besten gibt. Ein durchweg monotoner Electrobeat wird schön von Synthies umspielt. Samples ergänzen das geheimnisvolle Gesamtbild. In der Tat gibt es ein Sample, welches mich extrem an einen Antriebsmotor aus dem Star Wars Universum erinnert.
https://youtu.be/abJapK0W-Zw
Frölich klimpernd geht es in die letzte Runde, Run feat Noise Reduction geben ihr “Percy” zum Besten. Dieser Titel berührt mich am meisten, denn er handelt vom Leben des Marsroboters “Rover”, der sich allein jahrelang durch Gestein und Geröll gegraben hat. Irgendwann brach dann der Kontakt ab und es sieht so aus, als hätten wir ihn verloren. Im Song wird es textlich dargestellt und im Wechselgesang von Sänger, Sängerin kommt Percy sogar zu Wort. Das geht schon nahe. Für mich der Text mit der meisten Emotion, da schön von der Melodie getragen und nicht der Beat so in den Vordergrund gedrängt wird. Ein Taschentuch bitte, denn am Ende, wenn die Stimme in den Unendlichkeit des Weltalls verhallt, gibt es kein Halten mehr.
Was bleibt am Ende? Ein toll verpackter Six-Track Sampler (silk-screen mit 3D-Optik und 3D-Brille); streng limitiert auf 333 Kopien, davon 220 Kopien in red-marbled Vinyl und einer Reisegeschwindigkeit von 45 upm, der jedem Minimal-Electro-Fan das Herz brechen wird und allen anderen, die Möglichkeit gibt, einen ersten Blick in das Kernkrach-Universum zu tätigen. Es ist eine schöne Mischung aus eher tanzbaren Sounds aber aber auch sehr neuen, experimentellen Tracks. Und wie gesagt, ganz klar eine Ansage and die Zukunft – so muss es nicht klingen, aber so könnte es klingen. Warten wir 2033 ab. Für mich jetzt schon ein Favorit, für die Jahresauswertung 2022. Ganz klare Investition in die Zukunft, hier bestellen.
Die Künstler im Netz:
Das ist ja richtig Science Fiction! Die Mucke ist ja so, aber ich hoffe, daß die anderen Vorhersagen nicht ganz so krass eintreffen, hi!