In unserer heutigen Ausgabe von “MusInclusion” erzählt uns Rainer, 55 Jahre, wohnhaft in Calw, was er selbst unter Inklusion versteht, welchen Problemen er im Alltag und bei Konzerten in Bezug auf das Thema “Barrierefreiheit” begegnet und wie er selbst manchmal durch falsch verstandene Inklusionsversuche in unangenehme Situationen gerät…(zu weiteren, bereits veröffentlichen Interviews dieser Serie, gelangt ihr hier)
Hallo lieber Rainer, schön, dass Du heute unsere Serie “MusInclusion” mit einem Einblick in Deine Erfahrungswelt bereicherst. Erzähl uns doch zunächst ein bisschen etwas über Dich!
Mit 30 Jahren wurde, nach ersten Schüben, die Diagnose Multiple Sklerose gestellt. Die Symptome, die nach den Schüben blieben, beschränkten sich anfangs auf die Beine. Ich war wilder Tänzer, Sänger und Gitarrenschrubbler in unserer Band. Beruflich habe ich in der Psychiatrie gearbeitet. Nach nur 2 Jahren war ich so eingeschränkt, dass ich umschulen musste. Nun arbeite ich seit über 20 Jahren als Technischer Zeichner in einer Haustechnikfirma und plane Elektrotechnik in Krankenhäusern. Die MS hat sich stufenweise verschlechtert. Die Arme, Hände und Blase sind inzwischen auch betroffen. Spastiken in den Beinen machen zusätzliche alltägliche Probleme. Schübe habe ich keine mehr. Vor ca. 10 Jahren brauchte ich den ersten Stock, dann kam der Rollator, jetzt sitze ich im Rollstuhl. Die Übergänge waren fließend, erst nutzte ich den Rollstuhl nur für Außenaktivitäten und seit ungefähr 3 Jahren sitze ich den ganzen Tag im Rolli. Das Problem der schleichenden Verschlechterung ist, dass ich mich regelmäßig neu erfinden muss. Das kleine Malheur von heute ist in ein paar Monaten ein Dauerzustand.
Inwiefern betrifft Dich das Thema Inklusion persönlich?
Als ich diesen Begriff das erste Mal hörte ging es vor allem um die Eingliederung behinderter Kinder in die Schulen. Ich habe das dann nicht auf mich bezogen. Wenn ich jetzt aber so über meinen Arbeitsplatz nachdenke, kommen mir aber doch ein paar Gedanken. Als ich da anfing, sah man mir die Behinderung kaum an. Im Verlauf der Zeit bin ich dann mit allen Symptomen und Problemen, die auftauchen in die Firma hineingewachsen und ein leistungsfähiger, zuverlässiger und beliebter Mitarbeiter geworden. Dank Corona habe ich jetzt einen mobilen Arbeitsplatz zu Hause. Ich bin von 80 Mitarbeitern der einzige mit einer sichtbaren Behinderung. Momentan komme ich ohne Hilfe nicht mehr ins Haus und könnte die Toilette in der Firma nicht mehr benutzen. Ich hoffe daher, dass ich weiterhin von zu Hause arbeiten kann.
Unser Landratsamt hat von Inklusion noch nicht viel gehört. Ich brauchte 3 Jahre mit Sozialgerichtsentscheidung, um eine Höherstufung meines Behindertengrades zu erwirken. Mir ging es im Wesentlichen um den Erhalt eines Parkausweises. Das Ordnungsamt ist nicht in der Lage mir einen Behindertenparkplatz einzurichten. Unsere Straße ist nicht breit genug. Ein Laster kommt hier aber locker durch bei am Rand parkenden Autos. Solange ich arbeite, ist die Rentenversicherung, z.B. für Auto Umbauten, zuständig oder zahlt auch ein Taxi zur Arbeit. Das funktioniert alles soweit ganz gut, wenn man es nicht eilig hat. Von der AOK habe ich bisher alles bekommen, was ich brauchte. Nur bei der Pflegestufe da ist auch da schnell Schluss mit Lustig. Ich habe jetzt vergeblich versucht Pflegestufe 2 zu beantragen. Ein teures Medikament, wie z.B. Betaferon, würde ich bekommen, obwohl es mir nicht hilft. Leute, ich brauche keine Spritzen und Geräte, sondern Menschen mit Händen! Bei diesen Institutionen gäbe es noch so einiges zu regeln…Warum bekommt nicht jeder Mensch mit Handicaps einen Sozialarbeiter zugeteilt, der einem bei der Fettnäpfchen Rally bei Ämtern und Institutionen zur Seite steht. Das Internet ist bei diesen Fragen oft nicht wirklich hilfreich oder verwirrend. Bei mir hat sich der VDK als große Hilfe erwiesen. Wenn ich als Rollifahrer Hilfe brauche, finde in der Regel immer jemanden. Trotzdem frage ich mich, wenn ich unterwegs bin, wo z.B. die anderen Rollifahrer so sind? An einem normalen Samstag in Stuttgart sehe ich höchstens einen. Das gilt an fast allen öffentlichen Orten. Will ich eine Wohnung mieten, merke ich schon am Telefon, wie „begeistert“ Vermieter reagieren, wenn ich sage, dass ich im Rollstuhl sitze. Vielleicht nicht doch lieber der Raucher mit dem Hund? Von einer Gesellschaft, wo sich alle Menschen, „auch“ die mit Behinderung, auf gleicher Augenhöhe tummeln, sind wir noch weit entfernt. Trotz aller guten Ansätze die es gibt.
Würdest Du sagen, dass im Bereich Barrierefreiheit in Bezug auf Konzerte, aber auch in Plattenläden oder anderen kulturellen Veranstaltungen ausreichend getan wird? Kannst Du problemlos und ohne Begleitung ein Konzert / Veranstaltung besuchen?
Bei Veranstaltungsorten gelten 3 Regeln: Je größer die Veranstaltung, desto weniger Probleme erwarten mich als Rollifahrer. Je neuer der Veranstaltungsort, desto eher ist alles barrierefrei. Da gibt es teilweise Behinderten WCs, in die ich glatt einziehen würde 🙂 Ist der Träger des Veranstaltungsortes öffentlich oder ein Verein, desto besser sind die Einrichtungen für Behinderte, auch in kleineren Locations. Hier ist das Baujahr der Einrichtung entscheidend. Aus Erfahrung ist in der Schleyer-Halle in Stuttgart vom Parkplatz bis zum Platz in der Halle an alles gedacht. Man wird an einem Seiteneingang abgeholt und an seinen Platz geführt. Die Sicht auf die Bühne ist sehr gut. Nur komme ich da eher selten hin. Zu Open Airs gehe ich inzwischen höchst ungern… Selbst wenn von Veranstalterseite an alles gedacht ist, kann das Wetter echt zum Problem werden. Beim Dylan Konzert in Tübingen saß ich dann mit meiner Begleitperson stundenlang im übelsten Regen auf der mit Rollstuhlfahren vollgestopften Behindertentribüne ohne Dach. Ich hatte echt Angst. Die wissen doch wie viel Rollis ungefähr auftauchen und Wettervorhersagen gibt’s ja auch. Die Rampe auf die Tribüne war steil und rutschig. Bei kleineren Open Airs ist es oft auch nicht so der Hammer, vor allem haben die fast nie ein Behinderten WC. Und Leute… das Dixi WC für Rollstuhlfahrer ist bestenfalls besser als nichts. Also lieber keine Open Airs. Auf die ganz großen habe ich noch nie Lust gehabt. In Clubs bemühe ich mich immer, dass ich frühzeitig da bin und schaue nach einem guten Platz, den ich dann garantiert nicht mehr verlasse. (Fels in der Brandung Modus). Auch hier hatte ich schon Überlebensängste, wenn dann das Geschubse und Gemoshe los geht. Bei den meisten kleineren Läden gibt es kein Behinderten WC oder sonst irgendwie einen Zugang auf ein WC. Gut, auf manche dieser WCs will man auch gesund nicht hin. Ich trinke dann schon nachmittags nichts mehr und komme dann ganz gut bis nachts ohne Pipi über die Runden. Die Zugänge in diesen Läden haben oft Stufen, da wird man auch schon mal vom starken Personal getragen. Ist mir aber eher unangenehm. Wenn dann so ein Laden ein Behinderten WC hat, so ist es leider oft vollgestopft mit allem möglichen Zeugs, oder wird als Umkleide gebraucht. Dies ist auch in vielen Restaurants oft der Fall. Das Wizemann in Stuttgart ist eigentlich vorbildlich von der Barrierefreiheit. Die wissen dann nur nicht so genau wohin mit dem Rollifahrer. Da sitzt man dann links oder rechts von der Bühne und darf hinter die Absperrung. So viel sieht man da auch nicht und der Sound ist bescheiden. Da würde ich mir manchmal eine Tribüne auf der Höhe vom Mischpult wünschen. Am wohlsten und sichersten fühle ich mich inzwischen auf Sitzplatzkonzerten, wie z.B. in der Liederhalle.
Über welches Medium hörst und beschaffst Du Dir Musik?
Ich nutze alle möglichen Medien – Gutes altes Radio, Podcasts, Netflix, mp3 Sammlung auf der Festplatte. Am liebsten höre ich konzentriert Schallplatten und Orginal CDs. Die gebrannten CDs habe ich entsorgt. Die Tapes auch, was ich inzwischen bereue. Ich fange aber nicht mehr damit an Tapes zu sammeln. Ein Tonbandgerät hatte ich auch mal. Viele physische Tonträger kaufe ich nicht mehr. Habe ich Kauflust höre ich mir die Musik auf Spotify an und überlege, ob das sein muss. Früher war ich der King of Datenklau. Dank Spotify ist das nicht mehr nötig. Das hat früher fast suchtartige Dimensionen gehabt, mit der mp3 Sammelei.
Kennst Du inklusive Bands?
Ich kenne keine Inklusive Band. Im Fernsehen gab es mal eine Doku, ist aber schon eine halbe Ewigkeit her.
Wie kommst Du in der Regel auf ein Konzert? Nutzt Du auch Sonderfahrdienste, wie z.B. das Schlienz Rollstuhltaxi in Stuttgart?
Ich habe ein Auto mit entsprechenden Umbauten.
Musstest Du schon mal eine Location vor Beginn der Veranstaltung bereits wieder verlassen, weil erst vor Ort klar wurde, dass sie nicht ausreichend barrierefrei war?
Nein, wenn ich mal da bin, wird auch gerockt. Ich checke das alles vorher ab.
Was sind die Voraussetzungen dafür, dass Du einen entspannten Abend mit Musik genießen kannst?
Ein entsprechender Parkplatz, WC, keine Stufen…und vor allem gute Freunde die dabei sind, alleine mach ich das nicht mehr.
Hast Du das Gefühl ,dass Menschen ohne Behinderung Dir gegenüber gehemmt oder verunsichert sind? Fühlst Du Dich auf einem Konzert gut integriert, oder hast Du eher das Gefühl (unangenehm) “im Mittelpunkt” zu stehen?
Die meisten lassen einen in Ruhe oder ignorieren mich. Ist mir am liebsten. Signalisiere ich irgendeine Notlage, ist bei größeren Menschenmengen, auch in der Fußgängerzone, in der Regel gleich Hilfe da. Das ist seit meinem ersten Ausflug mit dem Rollstuhl so geblieben. Da gibt es natürlich auch die Übermotivierten, die einen über eine Straße rollern, über die man nicht drüber will. Die meisten Menschen sind aber vorsichtig und fragen nach, bevor sie helfen. Bei Konzerten habe ich öfters das “Maskottchenproblem”. Da gibt es dann Menschen die denken der Rollifahrer tanzt gern und sorgen für Platz und schnappen einen dann und schieben einen ungefragt durch die Gegend…Ufff, grauenhaft! Da muss ich manchmal auch meine Begleitpersonen zurück pfeifen. Die meinen es ja alle gut. Manchmal hat man auch unvermittelt eine Frau auf dem Schoß sitzen. Ok, es gibt Schlimmeres, aber ein Selfie, och ne. Das Maskottchenproblem nimmt mit steigendem Alkoholpegel auch deutlich zu. Flucht meist nicht möglich, ich bin ja der Fels in der Brandung, Haaaaa….
Gibt es etwas, was Du gerne in diesem Zusammenhang mal loswerden würdest?
Auf den Rolli Tribünen kommt es auch vor, dass Rollifahrer sich mit ihren Begleitpersonen gegenseitig die Laune vermiesen, indem sie über die Location oder Ordner, Sicherheitspersonal, schlechte Parkmöglichkeiten abkotzen – Bitte nicht kurz vor dem Konzert, da brauch ich Positive Vibrations. Ich bin jedesmal so froh, wenn ich meinen Platz vor der Bühne gefunden habe, da kann ich das nicht haben, weil ich nicht so schnell umschalten kann.
Vielen Dank Rainer, für das unterhaltsame und aufschlussreiche Interview!