Neko Case – Neon Grey Midnight Green:
Leise Rebellion, große Wirkung
„If you think I’m talkin’ ’bout romance / You’re not listening.“
aus „Winchester Mansion of Sound” von Neko Case
Dieser Satz auf „Neon Grey Midnight Green“ markiert viel von dem, was Neko Case seit drei Jahrzehnten auszeichnet: eine stille, unaufdringliche Rebellion, die Genres hinterfragt und Erwartungen verschiebt. Case bewegt sich innerhalb des Country- und Indie-Folk-Kontextes, ohne sich je von ihm einengen zu lassen. Geschickt bewegt Case sich in Zwischenräumen, an den Rändern von Tradition und Experiment, und schafft damit eine eigene Logik – musikalisch wie erzählerisch.
Genre-Unterwanderung als Prinzip. Neko Case bleibt konstant.
Bereits ihre frühen Alben – „The Virginian“, „Blacklisted“, „Fox Confessor Brings the Flood“ – zeigen, dass Case nicht nur performt, sondern systematisch unterwandert. Ihre Stimme, Arrangements und Bildsprache verschieben die vertrauten Grenzen von Americana und Country. Ein verschobener Akkord, eine überraschende Rhythmusänderung, ein Bild, das zwischen Folk und Surrealismus oszilliert – das sind kleine Brüche, die eine subtile Rebellion erzeugen.
Bei Case wirkt das Genre nie statisch. Sie dehnt es, ohne es zu zerstören. Man könnte sagen: Country und Indie-Folk werden bei ihr zu einem flexiblen Raum, in dem Tradition und Experiment koexistieren.
Kollaborationen jenseits der Grenzen. Neko Case bricht weiter Regeln.
Diese Fähigkeit zeigt sich auch in ihrer Zusammenarbeit. In The New Pornographers formt sie eine zentrale Stimmenschicht, die den Powerpop der Band stabilisiert und gleichzeitig destabilisiert – ein leiser Balanceakt.
In der Americana-Supergroup Case/ Lang/ Veirs mit K.D. Lang und Laura Veirs tritt dies noch deutlicher zutage. Jede Sängerin bleibt eigenständig, doch zusammen entsteht ein Organismus, der Rollenbilder auflöst. Rebellion entsteht hier nicht durch Provokation, sondern durch Präsenz. Case beweist: Man kann Regeln brechen, ohne laut zu sein.
Auflösung statt Rückschau. Neko Case geht weiter.
Mit „Neon Grey Midnight Green“ geht Case noch einen Schritt weiter. Die Platte ist kein Rückblick, kein nostalgisches Porträt. Sie löst auf, verschiebt, erweitert.
Das 20-köpfige Kammerorchester unterstützt diese Logik. Streicher, Holzbläser und Harfen markieren den Raum, ohne ihn zu begrenzen. Case bleibt frei, beweglich. Intimität und Monumentalität verschränken sich, ohne dass das eine das andere dominiert. Musik wird hier zu einem Ort der Porosität, in dem Stimmen, Erinnerungen und Gefühle gleichzeitig existieren können.
Verlust, Erinnerung und Zeit
Die letzten Jahre brachten einschneidende Verluste: Peter Moore, Dexter Romweber und andere enge Weggefährten fehlen in ihrer Biografie. „Neon Grey Midnight Green“ will diese Abwesenheiten schließen. Subtil, oft indirekt.
Auf “Winchester Mansion of Sound” schildert sie eine gemeinsame Wanderung mit Romweber. Nähe und Verlust verschränken sich, doch Case bricht Emotionen sofort durch distanzierte Klarheit: „If you think I’m talkin’ ’bout romance / You’re not listening.“
Zeit wird in Gezeiten, tickenden Uhren und dem veränderlichen Tempo der Songs selbst dargestellt. Trauer wirkt produktiv – sie zwingt zu Präzision, zwingt Case, Erinnerungen klar zu definieren, ohne sie zu stilisieren. Musik wird Archiv, Stimme, Chronistin, Erinnerung, Material.
Maschinen, Tiere und Traumlogik
Case verschränkt Biologie, Technik und Landschaft zu einer eigenständigen Logik. Auf “Tomboy Gold” beschreibt sie das triangle made by the highway and the exit and the overpass – banal und hochsymbolisch zugleich.
Über die Platte hinweg verschwimmen Alltägliches, Technik und Natur: Geister steigen aus Kakteen, Werwölfe fressen Horizonte, Minotauren tauchen zwischen twangigen Gitarren auf. Surrealität und Kohärenz existieren gleichzeitig. Traumlogik wird erlebt, nicht erklärt. Case verbindet spielerisch Absurdität und Realismus, sodass ihre Musik stets verwurzelt und unerwartet bleibt.
Reife ohne Rückzug – Neko Case bleibt dran.
„An Ice Age“ führt in intime, surreale Räume: Damentoiletten, Generationenüberlagerungen, körperliche Nähe. Case lässt sich Zeit, Szenen auszuleuchten, ohne sie zu vereinfachen. Ihre Stimme bewegt sich zwischen Klarheit, Zärtlichkeit und Dringlichkeit. Selbst animalische Ekstase wirkt analytisch – als physische Erkenntnis der Wahrnehmung.
Rebellion und Selbstreflexion verschmelzen hier. Case operiert innerhalb der Genregrenzen, verschiebt sie gleichzeitig. Diese Haltung, leise, aber konsequent, prägt die Platte von Anfang bis Ende.
Leise, aber unvermeidlich
„Neon Grey Midnight Green“ verlangt Aufmerksamkeit, ohne sie einzufordern. Es ist ein leises, intellektuell belastbares Werk, das nachwirkt, lange nachdem die Musik verklungen ist. Wer die Platte übersieht, verpasst nicht nur großartige Songs, sondern einen exemplarischen Beweis dafür, dass Popmusik in Spätkarrieren radikal, innovativ und formal kühn bleiben kann.
Die Königin des Alternative Country braucht keine laute Stimme
„Neon Grey Midnight Green“ bat eine Brücke zwischen der Magierin auf dem Cover und die Visualitäten im Inneren. Case schafft einen Klangraum, der Schönheit in allen Ecken findet. Begleitet von einem Orchester erlebt der Hörer eine fantastische Auswahl an Alternative Country Songs, mit einem Touch des Barocken.
Das Album ist über die Maßen toll ausgestattet und klingt schlichtweg und ohne Abstriche brilliant. Mit ihrer außergewöhnlichen Musikalität und kreativen Erzählweise, entführt uns Case in das Amerika dieser Tage. Die Königin des Alternative Country tut dies allerdings in ihrer eigenen, leisen, rebellischen Art und Weise.
Die Platte drängt sich nicht auf, sie will nichts beweisen – und genau deshalb gehört sie, sehr leise, sehr sicher, auf jede ernsthafte Best-of-the-Year-Liste. Sie definiert das Jahr nicht laut – aber nachhaltig.
Vinyl ist für mich nicht nur Musik, sondern ein Erlebnis. Die von mir beschriebenen Alben, habe ich alle ausgepackt, angeschaut und angehört. Gerne auch mehr als ein Mal. Bei den Reviews mache ich mir immer ein eigenes Bild durch entsprechende Recherche und das konzentrierte Anhören. Das ist meine Art den Künstlern entsprechende Wertschätzung für ihre Kreativität und Kunst entgegenzubringen.
So kann es vorkommen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens, die Platten in seltenen Fällen vergriffen sind.
Dazu gibt es für mich keine Alternative: über Platten schreiben, in dem man die Pressetexte abschreibt ohne die Platte in den eigenen Händen gehalten zu haben, macht für mich keinen Sinn. Danke für euer Verständnis. Lagartija Nick.

