Das, was ich da aus den Boxen höre, kann ja wohl nicht wahr sein! Ich stoppe den Plattenspieler und prüfe, ob Vinyl zum Cover passt – doch es stimmt alles. Somit muss ich wohl mit dem Widerspruch leben, dass aus meinen Boxen veritable 80er-Dancefloor-Hits knallen und ich mich 35 Jahre jünger fühle. Was Second Glance auf “Piano” zusammengeschraubt haben, ist lupenreine Wave-Disco aus den Achtzigern.
Doch dann erlebe ich bei meiner Recherche ein kleines Wunder. “Piano” ist schon 37 (!!!) Jahre alt und erst jetzt erschienen. Was verbirgt sich dahinter? Weitere Recherchen erschließen mir nicht die ganze Geschichte, aber die Legende geht so: Das übersichtliche Werk der Band umfaßt eine 12inch-Single sowie zwei Alben und ich sage jetzt schon, dass ich es schade finde, das sich da über die Dekaden nicht noch das ein oder andere Release dazugesellt hat. Das Quartett, das seine Instrumentierung nicht preisgibt, besteht aus Davi Roy Williams, Warwick Marks, Ben Wheeler und Pauline Williams. In den Jahren 1983 und 1984 spielten David Roy und Pauline Williams zwei Shows, veröffentlichten eine EP und begannen mit der Arbeit an einem Album, das aber nie fertiggestellt wurde. Das unvollendete Album wurde in die 2000er Jahre gerettet, fertiggestellt und wieder auf Eis gelegt.
Erst in diesem Winter 2019/2020 haben Second Glance das Album fertiggestellt. Das feine Label Young and Cold Records hat es ein Jahr später im Februar 2021 veröffentlicht. Das nenne ich mal australische Geduld. Aber das Warten hat sich gelohnt. Und irgendwie passt die Geschichte zum Namen der Band Second Glance, was so viel wie “zweiter Blick” bedeutet.
Gleich im Opener “Shackles and Chains” hebt dich der Beat aus deinem veganen Chillout-Sofa. Fast hat man den Eindruck, der gute alte Marc Almond (Soft Cell) singe – was sage ich? – schmachte hier. Ein guter Synthiebeat mit schöner Melodie machen den ersten Song zu einem echten Hit. Als Video zeigen wir euch den Opener “Shackles and Chains” in einer älteren Version.
“Out” kommt mit zappeligen Stakkato-Beat und einer dieser kongenialen Minimal-Melodien daher. Die Synthies brummen in Highspeed und es ist unmöglich, zu der Musik ruhig zu sitzen. “Down” macht seinem Namen ale Ehre: Es fährt das Tempo runter und das Vogelgepiepe am Anfang macht klar, dass es jetzt ruhiger zugeht. Das Stück schwebt auf Klangteppichen der Synthies und ist ein wunderschönes Kleinod. Der zurückgenommene Beat macht Platz für ein paar schräge Collagen. Einfach nur schön, was die Australier da machen. Kaum vorbei versetzt uns “Six Shooter” wieder mit dem typischen 80er-Synthpop in Bewegung – das klingt wie der Minimalpop von Der Plan oder den Instrumentalhit “Popcorn”. Zuckersüß und pastellfarben wie Zuckerwatte geht der Song zu Ende.
“Tomorrow”, der Rauswerfer der ersten Seite, bringt noch einmal die müden Knochen in Bewegung. Längst sind die bunten Leggings und das obligatorische Stirnband total verschwitzt, aber egal, letzte Ausfahrt: Sauerstoffzelt. Und hier ist sie wieder: Die an Marc Almond erinnernde Stimme, die so schön schmachtend zum Beat und einer weiteren wundersam eingängigen Minimal-Melodie die Hörer*innen umschmeichelt. An dieser Stelle möchte ich auf die Texte aufmerksam machen, die so schön Achtziger sind wie “You’re always trying to change me, But nobody can, You’re always so possessiv, But I’m my own man”. Ist das nicht herrlich?
Seite B beginnt mit einem erfrischenden Beat, den Vince Clark (Depeche Mode, Yazoo) hätte erfinden können. Die Beats und die einfache, aber extrem eingängige Meldodie nehmen sich zugunsten der Stimme zurück. So wird “The Quietest Movement” zu einem weiteren meiner Lieblingssongs des Albums. Wunderschönen Strophen wie “A new world today, out of the darkness and away, though seas may part us, in dreams we will touch, now and forever” sind die Crema auf diesem Cappuccino. Danach ist mit “A Gentleman’s Honor” endgültig die Eighties-Party im Gange. So schön retro, hier funkeln die Elektroperlen, die Synthies brummen und summen. Ich will gar nicht mehr hier weg. Second Glance wechseln zwar den Sänger, aber das ändert nichts am gesamten Gefüge. Definitiv einer der stärkeren Songs von “Piano”.
Bei “She’s leaving” hat die Stimme des Sängers und der Sängerin diese herrlich Achtziger-typische unterkühlte Attitüde, sodass man das Neonlicht quasi schon sehen kann. Daneben trumpft der Song mit schönen Synthiemelodien und -sequenzen auf. “Please don’t kiss” hätte definitiv aus der Feder der frühen Depeche Mode kommen können. Auch die Synthies erinnern stark an die britische Kultband! Als Schmankerl erklingt eine Basslinie, begeleitet von einem Synthie, die beide definitiv New Order zitieren. Ach, ist das herrlich. Hier gibt es so viel zu entdecken. Schade, dass nur noch ein Titel kommt. Und was soll ich sagen? Aus dem Nebel kommt “Celeste” mit einem balladesken Beginn daher und wird zu einem emotionalen Song für die Feuerzeuge. Die Stimme wird lediglich von einem Synthieteppich sphärisch begeleitet, der nur in Nuancen rauf und runter schwingt. Da gibt es die Textzeile “In my crystal halls a feather falls being beautiful just for you” – wer da nicht heult, ist nicht mit dem Herzen dabei. Abrupt hört der Song auf, ich trockne meine Tränen, hebe die Arme zum Himmel und rufe “Wo warst du in den frühen Achtzigern, als ich dich brauchte?”.
Resümee: Second Glance schaffen es mit ihren zehn Songs, das Hören der Platte zu einer Tanzveranstaltung und damit zu einem Erlebnis zu machen. Nach zwei Runden mache ich mich schweissnaß an des Review. Wer sich nicht zu alt für den 80er-Synthpop von Second Glance fühlt und abtanzen möchte, kann sich hier beim Label versorgen. Und wer weiß, vielleicht gibt es 2057 dann wieder was Neu-Entdecktes der Band? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Bis dahin läuft “Piano” in Hot Rotation … Leggings an und Stirnband auf die Murmel.