Willkommen in der Maschine: Die Götter sind zurück
Ein Schwarm aus Funken, der Geruch von Metall in der Luft, ein rotierender Presslufthammer schlägt den Takt. The Young Gods melden sich zurück mit einer Dampfwalze aus Stahl, Strom und Sturm. Mit „Appear Disappear“ veröffentlichen die Schweizer Industrial-Veteranen ein Werk, das nicht nur musikalisch zündet, sondern gesellschaftlich fackelt – ein Manifest zwischen digitaler Zersetzung und menschlicher Auflehnung.
40 Jahre nach Gründung scheint das Trio um Franz Treichler frischer, schärfer und entschlossener denn je. Die neue Platte ist kein nostalgischer Abklatsch früherer Großtaten – sie ist ein knurrender, zischender Golem, der durch unsere postapokalyptischen Ruinenlandschaften stapft. Mit ihrem typischen Mix aus Sampling, Livedrums und Gitarren-Sound zerlegen The Young Gods nicht nur Genregrenzen, sondern auch die Weltbilder der Hörenden. Wer glaubt, Industrial sei klanggewordene Kälte, wird hier lernen, dass Widerstand warm bluten kann.
Sampler, Saiten, Systemkritik – Die Klangarchitektur
Schon beim Opener „Appear Disappear“ schleudern The Young Gods uns mit verzerrter Gitarre, lodernden Beats und stechenden Samples in eine brennende Gegenwart. „Die Gitarren sind ausgepackt, die Messer gezückt“, kündigte das Label Two Gentlemen an – und tatsächlich, selten klangen The Young Gods so direkt, so angriffslustig. Industrial ist hier keine Ästhetik, sondern Widerstand – nicht laut und plump, sondern kontrolliert, intellektuell, aber mit echtem Biss.
Was folgt, ist ein Wechselspiel aus kantiger Rhythmik und atmosphärischer Dichte. „Systemized“ klopft wie eine Drohne ans Hirn: tribal-artige Drums, eine düstere Basslinie, Treichlers Sprechgesang – „I’m not the enemy / I just feel like – systemized.“ Eine Zeile wie ein Mantra, ein Aufschrei gegen die Uniformierung durch Technologie. Es ist diese Form von Musik, die nicht nur hören, sondern denken lässt – wie ein stillgelegter Güterbahnhof, auf dem plötzlich das Licht angeht.
Zwischen Störung und Schönheit – Der Puls des Albums
„Appear Disappear“ ist kein konzeptloser Schrotthaufen aus Effekten, sondern durchkomponiertes Erz. „Blackwater“ zum Beispiel ist ein pulsierender Track, der seine Kraft aus Minimalismus schöpft – eine Ode an Aktivismus, inspiriert von der Hongkonger Protestbewegung. Hier funkeln Melodiefragmente wie Glas im Schutt, getragen von einem hypnotischen Synthbass. Und dann: „Blue Me Away“ – ein akustischer Elektroschock, der sich in eine warme Melodiekurve windet, wie eine Faust, die zur offenen Hand wird.
Zwischendurch öffnet sich das Album in eine psychedelische Traumwelt – „Intertidal“ wabert wie Nebel über einem zerbombten Hafen, lässt Raum für Reflexion und einen Hauch Spiritualität. Doch keine Illusion hält lange: „Mes Yeux De Tous“ knallt mit brachialem Beat und verzerrter Elektronik zurück in die dystopische Realität – ein Track, der alles andere als altersmilde klingt. Treichler klingt hier weniger wie ein Sänger, mehr wie ein ruheloser Chronist, der durch die Trümmer der Geschichte wandert.
Tanzfläche trifft Widerstand – Die Kraft der Gegensätze
In typischer Young Gods-Manier schlägt „Appear Disappear“ Brücken, wo andere Mauern bauen. Zwischen roher Härte und kluger Lyrik, zwischen Tanzbarkeit und Gedankenexperiment. Die Texte wechseln zwischen Englisch und Französisch, zwischen Introspektion und Anklage, zwischen Verlorenheit und Aufbegehren.
„Hey Amour“ bringt französischen Chanson-Charme in die Dampfkammer, während „Shine That Drone“ mit Slide-Gitarre und einem schiebenden Beat die Clubbühne in eine Revolutionszentrale verwandelt. Der Track ist ein später Höhepunkt – knapp sieben Minuten baut sich der Song zu einer monumentalen Wall of Sound auf, wie ein Maschinenzug, der durch ein endloses Nachtpanorama rast. Achtung Suchtgefahr!
Selbst in den leiseren Momenten wird deutlich: Hier musiziert keine Band, die sich mit Vergangenheit schmückt. Hier wird ein aktuelles Statement in Eisen geschmiedet. Die Energie ist nicht nostalgisch, sondern notwendiger denn je. The Young Gods haben Relevanz.
Der letzte Funke – Ein Spätwerk mit Flammenkraft
„Off The Radar“ beschließt das Album als stille Reverenz. Sanfte Elektronik, fragmentierte Beats, darunter Treichlers Stimme – verletzlich, klar, direkt. Es ist ein Lied über Verlust, über seine verstorbene Frau Helen, aber auch über das Unsichtbarwerden in einer Welt, die zu laut ist, um Schmerz zu hören. Ein leiser Abschied – nicht von der Musik, sondern vom Vergessen.
The Young Gods zeigen hier nicht nur, dass sie noch da sind – sie zeigen, dass sie gebraucht werden. Als Zeugen, als Kritiker, als Soundarchitekten einer Zeit, in der Maschinen flüstern, Daten schreien und Gitarren wieder sprechen müssen. Und die Genfer Band tut das mit einer Virtuosität, die ebenso körperlich wie geistig elektrisiert – ein musikalischer Drahtseilakt über dem Abgrund unserer Gegenwart.
Zahnräder aus Klang – Pflichtstoff für alle Frequenzrebellen
Mit „Appear Disappear“ präsentieren The Young Gods ein Spätwerk, das nichts von Altersmilde, aber alles von künstlerischer Reife besitzt. Zwischen Beatgewalt und intellektueller Eleganz oszilliert das Album wie ein Quantenmotor – mal ratternd roh, mal flüssig elegant. Industrial lebt – hier, jetzt, in Grautönen und Verzerrung, in französischer Poesie und brennendem Zorn.
Wer „T.V. Sky“ liebte, wird sich hier wie zu Hause fühlen – nur dass dieses Haus inzwischen über Sensoren, Selbstbewusstsein und eine neue Art von Waffen verfügt. „Appear Disappear“ ist ein Dampfschiff mit Sturmsegel, ein Bollwerk aus Klang gegen das digitale Vergessen, eine Einladung zum Tanzen mit erhobener Faust.
9 von 10 Zahnrädern und Pflicht für: Freunde von Ministry, Nine Inch Nails, Envy of None – und alle, die wissen wollen, wie man mit über 60 noch eine Revolution lostritt, kommen beim neuen Album der The Young Gods voll auf ihre Kosten.
Das Vinyl ist in zwei Versionen erhältlich: Black oder Peer Northern Light Vinyl. Im Inneren findet man alle Texte und eine beigelegt CD.
Vinyl ist für mich nicht nur Musik, sondern ein Erlebnis. Die von mir beschriebenen Alben, habe ich alle ausgepackt, angeschaut und angehört. Gerne auch mehr als ein Mal. Bei den Reviews mache ich mir immer ein eigenes Bild durch entsprechende Recherche und das konzentrierte Anhören. Das ist meine Art den Künstlern entsprechende Wertschätzung für ihre Kreativität und Kunst entgegenzubringen.
So kann es vorkommen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens, die Platten in seltenen Fällen vergriffen sind.
Dazu gibt es für mich keine Alternative: über Platten schreiben, in dem man die Pressetexte abschreibt ohne die Platte in den eigenen Händen gehalten zu haben, macht für mich keinen Sinn. Danke für euer Verständnis.
Lagartija Nick.


