Rattster – Das Short Story Review
Folge #3 – START75, Album: “START75”
Es war Nacht, Hamster und Ratte waren auf der Flucht. Überfüllt war ihr rostiger Einkaufswagen mit ihrer Vinylsammlung und der zerlegten Soundmaschine, einer geheimen DIY-Schrottplatzkonstruktion. Der Wagen rumpelte hart, das Zubehör und LP’s darin wurden holpernd durcheinander geworfen. Bei diesem Höllentrip wurde jetzt ein extrem wichtiges Kabel hinausgeschleudert. Ohne dieses Uralt-Kabel allerdings, war die Soundmaschine nicht funktionsfähig, zudem wurde es schon lange nicht mehr produziert. Sie brauchten es daher dringend, aber leider blieb es unbemerkt auf dem Gehweg zurück.
Überflüssigerweise begann es nun zu schneien, ihre Sicht wurde schlecht, ein eisiger Wind biss ihnen in die Nasen. Plötzlich stoppte Hamster und wandte sich an Ratte: „Weißt du, was ich mich schon die ganze Zeit frage?“ „Nee, keine Idee“, sagte Ratte müde.
„Na, ich frage mich, welche Platte du im CATEX mitgehen lassen hast,“ sprudelte es nachtaktiv aus Hamster. Ratte, jetzt ebenfalls hellwach, lachte auf. „Wir verlieren unseren Barackenbunker, schleppen uns nachts durch Schneegestöber und du denkst bloß an Vinyl?“, dabei pfiff er anerkennend durch seine Nagezähne. „There’s no religion but sex and music“, versicherte Hamster. „Lyrics von Sting!“, Ratte nickte, „also, hier ist das Album.“
Damit zauberte er ein weißgraues Cover aus seinem Mantel. Es zeigte ein Schattenbild, eine Silhouette im Nebel (Fotograf Andreas Jäckle). Sie warf richtungweisend einen kontrastroten Papierflieger, darunter stand in roten Lettern START und in grauer Schrift 75, Thorsten Voigt. (Coverart Mäte)
„START75!“ Hamster staunte, „das Bild matcht, könnten wir sein: im Nebel, am Start. Ich kenne das Album, Release war Dezember 2023 bei Retter des Rock Records. Schade, dass unsere Soundmaschine zerlegt ist, jetzt können wir es gar nicht abspielen!“
„Kenne das Album natürlich selbst schon. Komm, wir versuchen einfach, die Songs zu covern,“ schlug Ratte vor. Schon stimmte er an, während er den Einkaufswagen elend angestrengt bergauf schob. Hamster kam ihm zur Hilfe, ackern & singen, jahrtausendealte Partnerschaft.
Der vorwärtstreibende Gitarrensound in Gedanken katapultierte sie voran, das Singen mobilisierte Kräfte, der Takt machte schneller. Der verdammte Klapperwagen wurde leichter. Dazu sangen sie „Musik“, der hoffnungsfrohe, lebensbejahende Song der deutschen Indie-Punk-Band START75 um Thorsten Voigt. (Der Dicke Polizist aka DDP / Blenden / hier das Vinylkeks Interview).
Der Weg geht nicht immer geradeaus 2 Kurven - wieder auf Spur! Was wäre, wenn ich abgebogen wär'? Könnte ich dem denn jetzt noch widerstehen? Das Dunkel schützte mich Im Versteck verharmloste sich das Gedankenspiel Verpackt in Töne und Melodien Musik entspannt - Musik lenkt ab Musik gibt Ausblick - Musik entfacht Ohne Musik wär ich innerlich verbrannt Musik hat mich immer wieder geheilt In all den Jahren - zu jeder Zeit Musik war immer für mich da Jedes Gefühl in Melodie verfasst Bis das Chaos verblasst (Musik, A-Seite, START75)
Singen half ihnen gegen die Furcht, für Katzen leichte Beute zu werden in dieser einsamen Gegend. Gespenstisch lagen hier nur Villen hinter Mauern in der Dunkelheit. Abgeschottet, stumm und leblos, wie riesige weiße Mausoleen auf einem Friedhof. Sie fühlten die Bedrohung.
Schreckenerregendes geschah kurz darauf: Die Wand aus stöbernden Flocken ballte sich zusammen und mit einer geschmeidigen Bewegung transformierten sich zwei Katzengestalten direkt neben dem Kabel, das auf dem Pflaster liegengebliebenen war. Geduckt pirschten sie sich heran, eine der Katzen schnappte das Kabel fauchend. Sie waren Streunerkatzen, seit langem hinter der Soundmaschine her, weil sie das Patent wollten, um damit erfolgreich zu werden und sich einen warmen Kaminplatz mit Pastete zu sichern. Sie hatten die Abrissbaracke zuvor lange observiert, was Ratte schon irgendwie gespürt hatte.
Gedämpft ertönten aus der Ferne Stimmen, die jetzt den dramatischen Rocktitel „Anchorage“ sangen.
Was geht eigentlich da draußen so ab?
Ich denke die Ressourcen sind knapp
Und trotzdem wird sich weiter bewegt
Weil keiner den Plot der Geschichte versteht
Sorgsam zog die eine Katze den am Kabel haftenden appetitlichen Geruch ein, schmatzte mit der Zunge. Aus phosphoreszierenden Augenhöhlen stierte sie in Richtung der Nager, doch der Schneenebel hatte Hamster und Ratte bereits verschluckt, allein ihre Stimmen waren leise zu hören.
Wolltest Du nicht gehen? Aber wohin soll es gehen? Du könntest eigentlich verstehen! Würdest Du besser hinsehen! (Anchorage, B-Seite, START75)
Mit ärgerlich zuckendem Schwanz näherte sich die zweite Katze. Ein dreckiges Knurren ertönte, sie zischte giftig: „Her mit dem Kabel!“ Vor Zorn verengte Augenschlitze glühten grünlich im Dunkeln auf:„Niemals!“ Krallen kratzen über Asphalt, als sie sich angespannt gegenüberstanden. Sie gönnten einander nichts, bildeten lediglich eine Interessengemeinschaft, um die Soundmaschine zu stehlen.
Etwas blitze scharf auf, wie die Klinge eines Messers. Die Angreiferin ließ vorerst ab, ohne dabei die andere Katze aus den Augen zu lassen. Sie würde auf einen günstigen Moment warten, um alles an sich zu reißen und es allein zu besitzen.
Tapfer arbeitete sich die singende Nagercombo vorwärts, voll Heimweh. Ratte legte sogar theatralisch eine Pfote auf’s Herz, stellte sich unter den gelblichen Schein einer Straßenlaterne und begann ein melancholisches Lied übertrieben vorzutragen.
Dieser STRAT75-Song spiegelte ihre Gefühle zu gut wider. Das Piano, der langsame Beat, die Leidenschaft in der Stimme, Ratte sang ein überzeugendes Cover. Wie war es möglich, so tiefgreifende Wirkung zu entfachen, obwohl die LP nicht einmal abgespielt wurde? Im Lichtkegel warf sich Ratte in Pose und sang mit ernster Mine.
Dunkle Wolken am Himmel Ein wenig Regen fällt Auf fällt reimt sich HELD - Ich glaub der war ich mal! In diesem vergangenen Leben - weit weit - entfernt Jedenfalls fühlt es sich so an! …“… Was ist denn passiert? Was hat mich irritiert? Vor einem Augenblick war es noch alles hier! Den Blick zurück und den Kopf so schwer Ich bin gedankenleer - gedankenleer (Star, A-Seite, START75)
Die Kraft der Musik, wie ein Energiekick, wie eine Akku-Ladung, um ihren Weg in der Nacht zu finden durchdrang sie. Aber sobald ihre Lieder verstummten, schien das Ziel unendlich weit entfernt. Würden sie jemals in dem sicheren Hinterhof ankommen, in dem ihre Freundin Hofratte im Kneipenkeller hauste?
Ratte seufzte gequält, „nur noch den Hügel rauf, dann schauen wir, ob es hier einen Pennplatz gibt.“ Ächzend schubsten sie den Einkaufswagen mit letzter Kraft bergan. Ohne Obdach drohte ihnen das Erfrieren, es waren mittlerweile -10°C. Nennt es schwarzen Humor, dass sie plötzlich als rockigen Sprechgesang das Lied vom Tod anstimmten.
David ist tot
John ist tot
Kurt ist tot
Sid ist tot
Freddie ist tot
Amy ist tot
Rio ist tot
Cliff ist tot
Ratte machte dazu eine Roboterstimme, während er seinen Rattenschwanz als Drumstick, energisch wie der START75-Drummer, auf einen Mülleimer am Gehwegrand peitschte. Show ist go on!
Wer ist als nächstes tot? Ennio ist tot Falco ist tot Lemmy ist tot Prince ist tot Eddy ist tot Elvis lebt (TOD, B-Seite, START75)
Waren sie selbst als nächstes tot? Wenn ja, fanden sie, hätten ihre Namen einen Platz am Ende vom Lied verdient. Sicher gab es ein fettes Revival-Festival im Nirvana. Ein Trost immerhin.
Endlich gelangten sie oben auf der Hügelkuppe an. Ein diebischer Wind lauerte dort auf sie, wand sich um Ratte’s Stiefel, wirbelte die Beinchen empor und fuhr schlussendlich mit einem kräftigen Stoß aus dem Mantelkragen heraus, während er feixend samt der letzten Körperwärme davonpfiff. Sie froren bitterlich!
Würde ein Superheld sie doch retten! So einer, wie der Superheld aus dem offiziellen Video der 3. Singleauskopplung von START75, produziert und teilanimiert von Sven Int-Veen, Zeichnungen wieder von nmarthalie.
Aber kein Superman kam geflogen. Enttäuscht sahen sie die pompösen Villen dieser Gegend aneinander gereiht. Es gab keinen wackligen Schuppen zum Einnisten, keinen Unterschlupf. Unter ihrem schwarzen Frotteestirnband keifte Hamster frustriert an die Luxusgebäude gerichtet: „Eigentum, Eigentum, pah, brauch’ ich nicht!“ Dazu gab sie wütend ihrem überfrachteten Drahtwagen einen Tritt.
Das war nicht gut! Sofort schlenkerte das Gefährt los, nahm bergab Tempo auf. Ratte wollte das fahrende Vehikel aufhalten, hatte aber keine Chance gegen die Wechselwirkung von Masse und Geschwindigkeit. Ratte hing nun am Karren als Zusatzgewicht, das verstärkte den physikalischen Effekt, Beschleunigung pur! Das Shoppingcart bretterte ungebremst abwärts, Hamster raste hinterher. Plötzlich erscholl ein enormer Knall, ohrenbetäubendes Heulen zerriss die Nacht. Was war passiert?
Voller Wucht war das Mördergeschoss gegen ein weißes Zufahrtstor gedonnert, eine Sirene schrillte, rotes Alarmlicht durchflammte die Schwärze. Rot auf Weiß auf Schwarz. Ratte lag bewusstlos im Schnee, sein Kopf blutete aus einer Platzwunde im dunklen Fell. Rot auf Weiß auf Schwarz. Die durchscheinende START75-Vinyl war aus dem Inner-Sleeve gefallen, auf die Straße, das Lyrics-Beiblatt mit Bandfoto von David Klammer flatterte fort. Rot auf Weiß auf Schwarz.
Aus dem Lautsprecher am Tor bellte es: “Halt! Wachschutz! Wer da?“ Ein Videokamera-Auge beobachtete die Szenerie nervös. Plötzlich öffnete sich die Pforte und ein weißer Junghund mit einem seltsamen Helm fuhr in einem Golfcart heraus, als Beifahrerin neben sich eine Albino-Ratte mit Arztkoffer.
„Hilfe!“, rief Hamster ihnen entgegen. „Bewahren Sie bitte Ruhe!”, schnauzte die Albino-Ratte im Kasernenton, „Platz da, ich bin Doktorin.” Hamster schrak zurück aber akzeptierte dennoch überrascht diese aggressive Anweisung. Ratte wurde dann auch sofort notverarztet, allerdings ziemlich grob behandelt.
„Sie müssen solange hier bleiben, bis dieser Intensiv-Patient genesen ist,” verordnete Frau Doktor gebieterisch und fügte herablassend hinzu: “Allerdings müssen Sie ihren, äh…Müll, draußen lassen.“ Dabei strich sie über ihr blütenweißes Fell. Dann wies die Doktorin auf den Hund, an dessen Helm allerlei Leuchtdioden und Drähte verkabelt waren: “Mein Wachhund Brutus.“ Brutus sprang Hamster sogleich ungestüm an und schleckte ihr freudig übers Gesicht. „Aus, sitz!“, kommandierte Frau Doktor barsch, wobei sie mit einer Fernbedienung den Hundehelm anpeilte, als er sich widersetzen wollte. Er machte durch einen Infrarotsensor am Helm schlagartig Sitz, obwohl deutlich zu erkennen war, dass das er dies nicht wollte. Mit leerem Blick starrte er nun zu Hamster herüber und rührte sich nicht mehr.
Bevor Hamster etwas zu sagen vermochte, entdeckte die Doktorin, die eine Leidenschaft für Vinyl als Wertanlage besaß, die START75-LP auf dem Boden, welche schimmernd, wie eine dünne Scheibe Eis dalag. Sie nahm das Cover, las die Rückseite kennerisch und ein Freudenschrei entfuhr ihr: „Aufgenommen im Studio 45, Nr. 45 aus 200 der handnummerierten, limitierten Auflage!“ Fanatisch starrten ihre roten Sammlerinnen-Äuglein, sie hauchte habgierig über die durchsichtige LP, desinfizierte diese sorgfältig und steckte sie selbstbewusst ein. Niemand protestierte.
Mithilfe ihrer Fernbedienung befahl sie dem wehrlosen Brutus als nächstes, den besinnungslosen Ratte in den Caddy-Fond zu hieven und kurzerhand abzufahren. Hamster würde Ratte niemals alleine mit dieser dubiosen Ersthelferin mitfahren lassen und so musste sie schweren Herzens mitfahren. Der schäbige Einkaufswagen aber blieb wie befohlen mit allen Siebensachen am Bordstein zurück, das Tor schloss sich.
Niemand hatte währenddessen bemerkt, wie zwei böse glühende Katzen-Augenpaare die Geschehnisse beobacht hatten. Kaum war das Tor zu, machten sich die Streunerkatzen hastig über den Einkaufswagen her. Sie rissen die Dinge aus dem Wagen und begannen darum zu streiten. Ein erbitterter Kampf entbrannte um die Beute, bei dem eine der beiden Katzen beinahe ihr Ohr verlor. Allerdings stellte jede bald blutüberströmt für sich fest, dass das Vehikel mit dem gesamten Equipment zu schwer war, um es alleine zu wegzuschaffen. Notgedrungen machten sie also gemeinsame Sache, obwohl sie es hassten. Die Gier war einfach größer als der Hass und so zogen sie angeschlagen aber siegesgewiss den erbeuteten Wagen Richtung Bahnhof.
Das Golfcaddy mit Ratte und Hamster traf unterdessen auf dem Vorplatz einer Villa ein, über deren Eingang zwei geschmacklose, fette Babyratten-Engelchen von ptotzigem Carrara-Marmor schwebten. „Brutus zeig ihr das Zimmer,“ herrschte die feinweiße Ratte im Befehlston den Hund an und befahl dann Hamster: “Bitte desinfizieren Sie sich!” Der Ton passte Hamster zwar nicht, aber sie nahm nach all den Schrecken gerne erstmal einige Spritzer der alkoholischen Lösung, verrieb sie hinterm Ohr, schoss einen Strahl ins Maul, gurgelte, rülpste und goss das Mittel großzügig über ihr Stirnband. „Bin ready. Hey ho, let’s go!“ Angewiderte Blicke der Hausherrin trafen sie.
Nachdem Hamster die Gäste-Suite bezogen hatte, hörte sie Musik. Ein lockerer, beschwingter Sound klang durch’s Haus.
Keinen Termin und leicht besoffen
Sitz ich mit dem Rücken gewandt
Mit dem Handy in der Hand - vor dir
Hamster stieß die Tür zu einer riesigen Halle auf und nun drang START75’s Song ihr voll entgegen. Hohe Boxen von weißem Klavierlack, dazu eine sündhaft teure weiße Anlage, perfekte Töne perlten ihr entgegen. So einen genialen Sound hatte sie nie zuvor gehört, das musste sie zugeben.
Einen Termin und leicht betroffen Träume ich von allerhand Mit dem Handy in der Hand - von dir Keine Termine und leicht einen sitzen Darin liegt das wahre Glück Mit unter auch ganz leicht am Stück (Keinen Termin, B-Seite, START75)
Die Doktorin nippte an einem Gin Fizz und hatte sich selbstgefällig auf ein weißes Ledersofa drapiert. Auf einem Flokati-Teppich davor lag Ratte. Er hatte nun ebenfalls diesen merkwürdigen, verkabelten Helm auf dem Kopf, dessen Lämpchen im Takt zum Herzschlag blinkten. Er atmete gleichmäßig in der Bewusstlosigkeit.
„Er hat die Operation grrrroßartig überstanden“, Frau Doktor nahm überlegen einen Schluck und prostete Hamster süffisant zu, „sie werden es bald selbst erleben.“ Hamster fragte erschrocken: „Eine OP?“ „Nur ein Routineeingriff, auch bei Ihnen ist es akut. Sehr gesundheitsfördernd, keine Sorge. Ich habe seinerzeit als Laborratte viel gelernt“, sie zwinkerte und lächelte sadistisch, während sie ihre Fernbedienung auf Ratte richtete. Die Lämpchen an seinem Helm flackerten auf, seine Lider zuckten und er stöhnte leise im künstlichen Koma.
Dann richtete sie die Fernbedienung gebieterisch auf den Hund, der sich offensichtlich gegen seinen Willen zur Hausbar begab. Widerwillig, aber professionell wie ein Barkeeper, begann er zu mixen. „Ich habe Ihnen einen B52 bestellt“, sagte die Meisterin selbstzufrieden. B’52! Bei ihrem Lieblingsdrink war Hamster’s Misstrauen leider augenblicklich erloschen. Shortdrinks und gute Musik, dazu kam jetzt ein kurzer Ohrwurm von The B-52’s. Hell Yeah!
Brutus brachte lethargisch dreinblickend den Drink, entzündete dann vor Hamster feierlich das blaue Flämmchen auf der Mixtur, denn er hatte sie vom ersten Augenblick ins Herz geschlossen. Aber das Feuer versengte Hamster’s Schnurrhaare. „Pass doch auf!“, pöbelte Hamster erschrocken und stieß Brutus unsanft weg, dabei fiel sein Helm herunter. Die rotäugige Laborratte fuhr entsetz auf und wies Brutus sofort autoritär zurecht: „Hierher, bei Fuß!“
Aber Brutus reagierte nicht. Es schien, als hätte er sich wie in Trance der Musik aus der Luxus-Anlage zugewandt. Gerade drehte auf dem Plattenteller das nachdenkliche Lied “Kälte” von STRART75. Deutlich kristallisierten die Wörter im Raum, wurden zu Gedanken in seinem Kopf.
Erkaltet bin ich
Das fiel Dir auf
Auch das ist mir total bewusst
Ich nehme es tatsächlich wahr
Doch dann kommt immer wieder dieser Moment
Wo ich könnte - aber nichts tu'
Eine Ahnung trat in sein junges Hundegesicht, wuchs mit jedem Ton des langsamen Sprechgesangs. Seine Gedankenströme füllten sich mit Leben, viel klarer waren sie jetzt ohne den verkabelten Helm. Erkenntnis und ein Wunsch schwollen in ihm zu unbändigem Verlangen an, je länger das Lied spielte: Er allein bestimmen.
Dieser Wunsch allein zu sein Diese Ungetriebenheit - dieser Unwille Und immer wieder diese verpasste Chance Ich wünsch mir eine Hand Die mich rausführt aus dieser Phase Aus dieser Laune - aus diesem Zwang (Kälte, B-Seite, START75)
Diesen introvertierten Moment nutzte die listige Laborratte, um Brutus von hinten den Helm überzustülpen. Sie wollte die unbegrenzte Kontrolle über ihren Diener zurück. Allerdings hatte sie nicht mit Hamster gerechnet, die ihr schwarzes Stirnband nicht umsonst verliehen bekommen hatte. Ein gekonnter Karatekick trat ihr den Helm aus den Pfoten, Dioden und Drähte verabschiedeten sich beim Aufprall.
Die farblose Doktorin kreischte schrill auf, Brutus bellte so erschrocken wie erleichtert. „Sind Sie übergeschnappt?“, krakeelte die Laborratte aggressiv, „so kann ich keine Verbindung zum Microchip im Hirn herstellen!“
Da begriff Hamster! „Hier ist nur eine Person wahnsinnig!“, tobte sie und riss ihr die Fernbedienung aus den knotigen Pfötchen. Hamster hatte endlich verstanden, in welcher Gefahr sie waren. In diesem Moment traf sie Brutus Hundeblick, Trauer stand darin, er schaute fragend. „Lauf, Brutus, lauf!“, brüllte Hamster, „hau endlich ab!“
Frau Doktor würde jedoch niemals bereit sein, ihre Macht aufzugeben. Sie bereitete sich eben darauf vor, eine Spritze mit einem Beruhigungsmittel aufzuziehen. Das musste verhindert werden! Also gab ein erbarmungsloser, orangener Fellblitz mit schwarzem Frotteestirnband ihr einen allerletzten Hamsterhieb auf Adrenalin. Mit einem überraschten Gesichtsausdruck fiel die Hinterlistige in die eigene Spritze und so sackte die teuflische Doktorin betäubt zusammen, aus die Maus. Brutus hingegen hechtete aus dem Fenster in die Freiheit, er hatte große Pläne. Der nächste Song auf der B-Seite begann bereits zu spielen, es sollte für immer sein Befreiungs-Song werden. “Pianoman” mit seiner hoffnungsvollen Attitüde war es.
Billy hieß der Typ - kam aus dem gleichen Ort wie ich. Ein Exot vor dem Herrn - lief aus dem Gleichgewicht Wollte immer nach New York - nur ein einziges Mal Hoch hinaus auf das Empire State Building fahren Zum Nordkap sollte eine weitere Reise gehen Er sagte: „Einmal mit dem Rücken zu allem stehen, will ich machen, da der Abgrund vor mir liegt!" Und deswegen denk' ich heut an Dich Und deswegen glaub' ich heut an Dich Und deswegen erzähl' ich heute noch von Dir Von deinen Ideen, deinen Fantasien Von deinen Sehnsüchten, von deinen Strategien Von einem Haus am Meer mit einem weißen Flügel Bist du heut der „Pianoman" ??? (Pianoman, B-Seite, START75)
Aber jetzt gab’s keine Zeit zu verlieren. Hamster beugte sich über Ratte’s leblosen Körper und entfernte den Helm: Kein Lebenszeichen. Eine sauber vernähte Narbe verlief dort, wo zuvor die Platzwunde war. Hatte er dort etwa schon einen Neuro-Micro-Chip eingepflanzt bekommen? Plötzlich setzten die blinkenden Lichtlein aus, ein langgezogener EKG-Piepton warnte vor dem Exitus. Ratte durfte nicht sterben!
Nur Wiederbelebung konnte ihm helfen. 30 Herzdruckmassagen zu 2 Beatmungen, erinnerte Hamster vage. Die Mund-Zu-Mund-Beatmung ließ sie an den Song „Küss Mich“ denken. Der Refrain hatte inklusive Ratte’s Namen zufällig exakt 30 Wörter, das würde ihm gefallen, dachte sie ermutigt. Sie pumpte entschlossen los, während sie im Rhythmus den Songpart sprach.
>Ratte!<
Nur ein einziges Wort Ein einziges Wort! Küss mich bevor du gehst (die Erinnerung daran...) Küss mich bevor du gehst (trau dich - es ist fast zu spät) Küss mich! (Küss mich, B-Seite, START75)
Sie spendete nach der Herzmassage bange zweimal Atem. Ein Wunder! Ratte öffnete die Augen. Ohne Zeitverlust flohen sie aus der Schreckensvilla, jedoch musste Hamster am Gehweg erschüttert feststellen: Ihre schrottige Einkaufskarre war weg! Radspuren verliefen durch den Schnee, daneben Abdrücke von Katzenpfoten. „ACAB – All Cats Are Bastards!“, schimpfte Hamster.
„Moment, soll das heißen… unser gesamtes Equipment wurde gestohlen?“, japste Ratte begreifend. „Darin war die allererste Original-Ton-Steine-Scherben-LP.!“ Ratte sah elend aus. „Die hab’ ich von meinem Opa, der lebte im Gebälk eines Abrisshauses am Marihuannenplatz. Er war sogar beim Konzert für die Liveaufnahmen des Albums dabei,“ seine Stimme versagte, als fiele er wieder in Ohnmacht.
„Ratte, du hattest diesen Unfall, wir konnten nichts mitnehmen,“ flüsterte Hamster voller Schuldgefühl. „Aber ich werde alles geben, diese LP für dich wiederzubekommen!,“ sie ballte die Pfoten. “Wir müssen unsere Soundmaschine und die Vinyl-Sammlung wiederfinden!”
Ratte legte dankbar seine Pfoten auf Hamsters Schulter. Für einen Moment standen sie so da, sammelten sich, atmeten Zusammengehörigkeit zu einer dunstigen, feinen Aura, die sie sanft einhüllte. Hauptsache sie lebten, hier und jetzt.
„Mir ist nach einer Ska-Punk-Nummer zum Ablenken,“ sagte Ratte, „Trompeten, dazu Reaggebreaks, das gibt Lebensenergie.“ Er tänzelte schon singend die Straße entlang, sodass niemand glauben konnte, er sei frisch am Gulliver operiert worden.
Haben viele Melodien noch gemeinsam im Ohr Die wir uns gegenseitig sangen Unser Chor hallte bis aufs Meer Diese Momente haben sich in meinen Verstand gebrannt Ich habe erkannt Dass es für Ewigkeiten hält Ich freue mich auf JETZT Ich freue mich auf IMMER Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich noch erinner’ (Jetzt, A-Seite, START75)
„Uns bleibt die Erinnerung, leider auch die schlechte,“ sagte Hamster, „ich glaube, ich mag die Farbe Weiß für lange Zeit nicht mehr.“ Sie hatten nun neben ihrem Zuhause auch ihre heißgeliebte DIY Soundmaschine mitsamt Vinylsammlung verloren. Besonders schmerzlich war Ratte’s Verlust. Die Spuren im Schnee vom Einkaufswagen endeten abrupt auf einem Gleis am Bahnhof. Das Leben war manchmal einfach nur unfair. Wie sollten sie ihre Dinge jemals wiederbekommen?
Wie weit der Weg zur Großstadt war, wo die Hinterhofratte lebte, konnten sie ebenfalls nicht sagen. Sie fröstelten. Der Himmel brannte, als der Morgen anbrach. Vor ihnen lag wieder einmal die Straße.
Der Fluss, der klingt nach Springsteen Die Straße schmeckt nach Teer Laternen werfen Schatten Der Zukunft hinterher Kaugummi auf Asphalt Ausgespuckt - getreten Aus Weiß wird Grau (Aus Grau wird Weiß, A-Seite, START75)
Ob sie ihre Soundmaschine & LP-Sammlung wiederbekommen, ans Ziel gelangen und welcher neue Soundtrack sie dabei begleiten wird, erfahrt ihr in der nächsten Folge, wenn es wieder heißt: Hamster & Ratte, hören gerne Platte.
Alle anderen Folgen von Rattster kannst du nachlesen und zu einem fetten Soundtrack erfahren, was auf dem Roadtrip bisher geschah. Bei Vinylkeks in der Specials Kategorie Rattster findest du die ganzen Folgen.
Das Album könnt ihr zum Beispiel bei Tante Guerilla kaufen.
Hier ist das teilanimierte Video zu „Musik“ mit Zeichnungen der Künstlerin nmartalie, die übrigens als Gastkünstlerin für die heute Rattster Folge #3 das coole Bild von Hamster-Ratte-Platte gemacht hat. Danke dafür! 🙂
Video “Der Mann im roten Shirt” der 3. Singleauskopplung von START75, produziert und teilanimiert von Sven Int-Veen, Zeichnungen wieder von nmarthalie.
“Jetzt”: Dies Musikvideo ist übrigens die zweite Single-Auskopplung, eine Superheldentrilogie, gezeichnet von nmarthalie.
Releasekonzert START75, in der Büze Ehrenfeld, am 09.03.2024, Tickets.