Manchmal ist der Entscheidungsprozess, welche Platte man als nächstes hört, alles andere als einfach. Was ich dann ganz gerne mache, ist mich einfach vom Cover leiten zu lassen. Auch bei diesem Mal war es unter anderem das interessante Artwork, was mich dazu gebracht hat, genau diese Platte aufzulegen. Mal sehen, ob die Musik dahinter genauso begeistern kann wie das Cover?
Abigail Lapell meldet sich mit “Anniversary” zurück, einem Album, das sich anfühlt wie eine intime Erzählung, die in einem alten Tagebuch zwischen verblassten Fotos und getrockneten Blütenblättern versteckt ist. Die Singer-Songwriterin und Multi-Instrumentalistin aus Toronto schafft es, uns mit elf Songs in eine Welt zu entführen, in der Liebe nicht nur eine unbeschwerte romantische Komödie ist, sondern ein tiefes, oft widersprüchliches Erlebnis, das sowohl tröstet als auch beunruhigt.
Das Album, aufgenommen in einer 200 Jahre alten Kirche – die, wie könnte es passender sein, an einen Friedhof grenzt – umgibt uns mit einer fast greifbaren Atmosphäre. Man spürt den Hauch der Zeit, das Gewicht vergangener Tage, während Lapell sanft über das Klavier streicht und die Orgeln in den Hintergrund murmeln. Jeder Ton hallt nach, als würde er die Geschichten derer erzählen, die vor uns kamen, während Lapells Gesang wie ein stilles Gebet an die Vergangenheit wirkt.
“Anniversary” ist keine Sammlung von Liebesliedern im herkömmlichen Sinn. Es ist ein poetisches Werk, das mit den Idealen spielt, die uns seit der Kindheit in Filmen und Büchern verkauft werden. Lapell fragt: Was bedeutet es wirklich, zusammen alt zu werden? Ist ewige Liebe ein Segen oder ein Fluch? Sie durchleuchtet die Schattenseiten der Romantik, von der Co-Abhängigkeit bis zur unweigerlichen Vergänglichkeit, und schafft es dennoch, uns ein warmes Gefühl von Hoffnung zu schenken, welches nicht zuletzt auch durch die musikalische Umsetzung entsteht.
Ich bin ja ein großer Freund davon, gewohnte Strukturen aufzubrechen und einfach mal neues zu wagen, um Gefühle und Ideen zum Ausdruck zu bringen. Vor diesem Hintergrund haben mich vor allem das Arrangement diverser Instrumente sowie die Besetzung mit Musikern aus unterschiedlichen Bereichen besonders begeistert. Die Zusammenarbeit mit Tony Dekker von den Great Lake Swimmers, welcher als Co-Produzent tätig war, erweist sich hierbei als ein Geniestreich. Die orchestralen Country-Jazz-Arrangements, die das Album durchziehen, sind gleichzeitig opulent und subtil, lassen Raum für Lapells Geschichten und verstärken die Emotionen, die sie in ihre Texte webt. Man spürt den Hauch der Nostalgie und die Schwere persönlicher Meilensteine – wie den 40. Geburtstag oder den Tod ihres Vaters – die in den Liedern mitschwingen. Untermalt von Lapells sanfter Stimme, die mich immer ein wenig an die Stimme von Dolores O’Riordan von The Cranberries erinnert, erzeugt dieses Album eine unfassbar beruhigende und angenehme Atmosphäre.
Besonders beeindruckend ist, wie Lapell es schafft, Licht und Dunkelheit, Verlust und Liebe, Vergänglichkeit und Ewigkeit zu vereinen. Ihr Album ist wie eine komplizierte, aber wunderschöne Stickerei, bei der jeder Faden sorgfältig ausgewählt wurde, um ein Gesamtbild zu schaffen, das sowohl Herz als auch Verstand berührt. “Anniversary” ist weniger eine Dekonstruktion der romantischen Liebe als eine aufrichtige Feier der Bindung, mit all ihrer Tragik und Hoffnung.
Abigail Lapell hat mit “Anniversary” ein Werk geschaffen, das in seiner Tiefe und Schönheit das Potenzial hat, noch lange nachzuklingen. Es ist ein musikalisches Meisterwerk, das uns daran erinnert, dass Liebe nicht immer einfach ist, aber gerade in ihrer Komplexität ihre wahre Stärke findet. Ein Album, das man nicht nur hören, sondern auch fühlen sollte – und das mit Sicherheit noch viele weitere “Anniversaries” feiern wird. Die Platte kommt in einem erfrischend kräftigen Aqua Blue daher und wurde über Outside Music veröffentlicht. Ihr findet das Album wie immer über JPC oder wahlweise bei Bandcamp.
Viel Spaß beim Hören!
Jan