Stellt euch vor, ihr habt zu einem bestimmten Datum geplant ein Album zu veröffentlichen, dann aber geschieht etwas nicht vorhergesehenes. Was ich meine ist das Erdbeben in Syrien und der Türkei, welches sehr viele Menschen aufgrund Verwandter, Bekannter, Freunde trauern ließ, die dort ihre Leben ließen. Da es bei Altın Gün zwei Bandmitglieder mit türkischen Wurzeln gibt, war da natürlich relativ schnell klar, dass sie sich nicht ausschließlich um ihr Album kümmern können und wollen. Dementsprechend haben sie den Termin der Veröffentlichung vom 10.03.2023 auf den 31.03.2023 verlegt.
Ich bin ein großer Fan dieser Band. Daher war ich vorsichtig optimistisch, wie sich “Aşk” wohl im Vergleich zu meinem Lieblingsalbum der Band “Gece” (2019) und dazu zum eher schlechten Album “Yol” (2021) schlägt. Nebenbei bemerkt, haben sie in 2021 ebenfalls noch “Âlem” veröffentlicht, das aber völlig an mir vorbei gegangen ist.
“Aşk”, herausgekommen bei Glitterbeat Records, feiert die Rückkehr zum anatolischen Folk-Rock der 70er Jahre, den man eben bei “Gece” und bei “On” (2018) bereits hören konnte. Es ist aber nicht nur ein “Wir machen einfach das, was wir vorher gemacht haben und gut is …”! Sie haben das ganze zusammen in einem Proberaum eingespielt – wie eine Art Live-Album. Das letzte Album, eben “Yol”, wurde aufgrund der Pandemie zuhause produziert. Nun, mit “Aşk”, also back to the roots – live eingespielt. Was sie auch anders gemacht haben, ist die Auswahl der Instrumente. Vintage-Equipment und die Aufnahmetechniken verleihen dem Album einen so warmen und einladenden Klang.
Eine Rückbesinnung zum anatolischen Folk zeigt sich auch bei den Titeln. Diese sind alles Neuinterpretationen traditioneller türkischer Volksweisen, die zeigen, dass diese alten Lieder noch nachwirken und reif für Neuinterpretationen waren. Gecovert wurden sie wohl oft, nie aber in der Version Altın Güns.
Das Album beginnt mit “Badi Sabah Olmadan”, das auch auf “Âlem” als brodelnder elektronischer Ausflug zu hören ist, ich aber nun nur in der Version auf “Aşk” kennen gelernt habe. Der eröffnende Snare-Roll knallt wie eine Startpistole und signalisiert einen rasanten Flug in den treibenden Space-Rock, zu dem Erdinç Ecevit mit Gesang und elektrischer Saz beiträgt, während Thijs Elzingas Slide-Gitarre an einen anatolischen Cousin von Pink Floyds psychedelischem Hit “One of These Days” erinnert.
Die Saz und die Slide-Gitarre sind auch in “Su Sızıyor” zu hören, einem Reggae-Funk-Groove, bei dem Verhulst und Schlagzeuger Daniel Smienk eine dichte Kulisse für Daşdemirs Gesang bieten. Bei “Dere Geliyor” fügt Ecevit Keyboards hinzu und rollt in ein wohldosiertes Synthesizer-Solo, während Chris Bruinings’ scheppernde Handtrommeln und Taktarten ein episches Prog-Folk-Gefühl hervorrufen.
“Çit Çit Cedene” ist das einzige Stück auf dem Album, das zuvor von der Anadolu-Psych-Legende Barış Manço mit einem 70er-Jahre-Psych-Folk versehen wurde. Hier verleiht Altın Gün seinem Funk-Vibe zusätzlichen Schwung, und Ecevit entfaltet ein weiteres umwerfendes Synthesizer-Solo. Der Geist von Barış Manço ist auch in “Kalk Gidelim” zu spüren, das deutliche Spuren von Manços verführerischem Klassiker “Lambaya Puf De” trägt. “Rakiya Su Katamam” ist glühender Space Rock, “Canim Oy” dagegen ein psychedelischer Freak-Beat-Stomper. “Güzelliğin On Para Etmez” ist eine verträumte Acid-Folk-Hymne. Und das Finale, “Doktor Civanim”, ist ein griffiges Stück Sci-Fi-Disco-Synthie-Ding.
Zu erwerben ist Altın Güns “Aşk” zum Beispiel bei Glitterbeat, via Band-Bandcamp und natürlich via JPC. Wir würden uns über einen Kauf via JPC freuen, da ihr nicht nur damit der Band helft, sondern damit auch uns unterstützt.
Viel Spaß beim Hören und Entdecken! Es lohnt sich!!!