Scheinbar aus dem Nichts tauchten Belgrad 2017 mit ihrem selbstbetitelten Debütalbum auf und hinterließen allenthalben offene Münder. So intensiv, so eigenwillig, so düster und eindringlich hatte lange kein deutschsprachiges Album mehr geklungen und nachgewirkt. Post-Punk? Irgendwie schon, aber irgendwie auch deutlich mehr Post als Punk – mit deutlichen Anklängen aus New Wave und Synth-Pop. Die Köpfe hinter dieser dann gar nicht mal so jungen Newcomerband kannte man aus diversen Subkulturszenen, mit Stephan Mahler (Slime, Torpedo Moskau) ist ein zentraler Protagonist der deutschen Punkhistorie mit an Bord.
Nun legen er und seine Mitstreiter Hendrik Rosenkranz und Leo Leopoldowitsch nach sieben Jahren ihre zweite Platte vor. Und „Lysis“ trifft einen erneut mit voller Wucht in die Magenkuhle. Denn Belgrad schaffen es, wie wohl keine zweite Band hierzulande, mit ihren Texten und ihrer Musik ein Gefühl des Unbehagens zu erzeugen. Die Songs erzählen von Einsamkeit, von (sozialer) Kälte und von Verzweiflung. Und Belgrad lassen sich dabei gefühlt noch einmal mehr Zeit, ihre Geschichten zu erzählen. Kaum einer der zwölf Songs bleibt unter der Fünf-Minuten-Marke, hinzu kommen der kongenial von Jürgen Vogel gesprochene Prolog und Epilog mit jeweils mehr als sechs Minuten Spielzeit.
Nein, Belgrad ist sicher keine Band, die für Spotify-Algorithmen und kurze Aufmerksamkeitsspannen gegründet wurde. Vielmehr sind die Hörer*innen gefordert, sich mit den hier vertonten Kurzgeschichten intensiv auseinanderzusetzen. Wie mit der auf einer wahren Begebenheit beruhenden Erzählung von „Rachel & Joseph“, die sich beim Wandern im Joshua Tree Nationalpark verlaufen und schließlich gemeinsam keinen Ausweg sehen als die Selbsttötung. Das Stück erinnert in Erzähl- und Vortragsweise an manche Spoken-Word-Vorträge von Marcus Wiebusch. Die einzige Hoffnung, die durch die tottraurige Geschichte schimmert, ist die Tatsache, dass die beiden nicht alleine gestorben sind.
Zu den weiteren Höhepunkten auf „Lysis“ gehören die tatsächlich tanzbare Kapitalismusanalyse „Markt fressen Seele“, das treibende „Leben der Lebenden“ und das für Belgrad geradezu optimistische „Agnetha“. Insgesamt 74 Minuten Musik, Text und Geräusche, die erschlossen, erarbeitet und verarbeitet werden wollen. Wer sich darauf einlässt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit das beste deutschsprachige Album dieses Jahres gehört.
„Lysis“ erschient als Doppel-LP beim grundsympathischen Label Zeitstrafe und ist unter anderem im Onlineshop vom GHvC erhältlich.