Best of 2024 und warum es Best-Of-Listen braucht …
Es gibt eine Gattung Mensch, die in den Abgründen der Musikforen gedeiht: der Ersteller von Best-of-Listen. Diese edlen Kuratoren des kollektiven Geschmacks haben eine göttliche Gabe – sie sind die Auserwählten, die wissen, welche Alben wirklich die besten sind. Und natürlich geht es hier nicht um Meinungen. Es handelt sich um absolute Wahrheiten, sorgfältig herausgefiltert aus einem Universum von unzähligen Platten.
Der Vorgang, eine solche Liste zu erstellen, gleicht einer spirituellen Reise. Zunächst meditiert der Listenmacher tagelang über die Frage, wer an der Spitze stehen sollten. Die Wahl des Albums ist jedoch die wahre Kunst. Diese Entscheidung hat die Tragweite eines philosophischen Disputs, der bis ins 23. Jahrhundert nachhallen wird.
Natürlich darf ein Album nicht fehlen, das niemand kennt. Ein obskures Werk, das nur in einem kleinen japanischen Presswerk für eine Woche im Jahr stark limitiert produziert wurde. Das sagt: „Ich habe Dinge gehört, die deine kümmerlichen Spotify-Algorithmen niemals finden werden.“
Interessanterweise ähneln sich die Listen erstaunlich oft. Es scheint, als gäbe es ein geheimes Listenmacher-Konsortium, das jährlich in einer beschaulichen Berghütte zusammentrifft, um festzulegen, wer in der Liste zu finden ist.
Am Ende bleibt die Frage: Sind diese Listen ein Akt der Liebe zur Musik oder ein Denkmal für das eigene Ego? Vielleicht beides. Aber seien wir ehrlich – ohne sie wäre das Internet ein viel traurigerer Ort. Wer würde uns sonst erklären, warum unser Geschmack so hoffnungslos falsch ist?
Diese Einleitung trifft selbstverständlich auf meine Best-Of 2024 zu.
(Anm. des Autors)
Molchat Doma – Beyala Polosa
The questions about our livelihoods and existence
Molchat Doma, das gefeierte Post-Punk-Trio aus Belarus, setzt mit seinem vierten Album „Beyala Polosa“ neue Maßstäbe. Dieses Werk, inspiriert von Ikonen wie Joy Division und The Cure, wird als eines der besten Alben der Bandgeschichte gefeiert und begeistert mit einer unvergleichlich intensiven Atmosphäre. Für mich stach es aus der Masse an neuen Veröffentlichung hervor, da die zehn Tracks des Albums ed schaffen, Emotionen so kraftvoll zu transportieren, dass mich tief berühren und in eine Welt voller Dunkelheit, Melancholie und Schönheit entführen.
Das Album startet mit „Ty Zhe Ne Znaesh Kto Ya“, einem monumentalen Opener, der mit wuchtigen Beats und packenden Synthesizern die perfekte Einstimmung liefert. Weiter geht es mit „Son“, dessen düstere Klänge und hypnotischer Bass das Gefühl eines emotionalen Abgrunds vermitteln, während „III“ eine völlig andere Facette der Band zeigt: energiegeladen und mitreißend, bleibt die charakteristische sowjetische Kälte dennoch spürbar.
„Beyala Polosa“ ist weit mehr als eine Sammlung großartiger Songs – es ist ein kongeniales Kunstwerk, das wie ein stimmiges Konzeptalbum wirkt. Die Kombination aus melancholischen Texten, kalten Post-Punk-Sounds und einer dichten Atmosphäre macht es zu einem Erlebnis, das nicht nur die Ohren, sondern auch die Seele ergreift. Für Fans von tiefgründiger, stimmungsvoller Musik ist dieses Album ein Muss – hypnotisch, fesselnd und absolut unvergesslich.
Einstürzende Neubauten – Rampen
Die Single „Kalte Sterne“ war 1981 mein erster Kontakt mit den Einstürzenden Neubauten. Kaum jemand kannte die Band. Niemand mochte ihr Aussehen, ihren Sound. Ich habe die Neubauten geliebt und Blixa Bargeld vergöttert. Diese Band baute nichts auf – sie riß ein! Für die Neubauten gab es keine Schublade, kein Genre – die Berlin standen immer für sich und was sie taten.
43 Jahre später, gibt es die Band immer noch. Etliche Male totgesagt, als nicht relevant abgestempelt, residieren die Neubauten heute in den exquisitesten Plätzen, auf den monumentalsten Bühnen und werden als nationales Kulturgut durch die Welt geschickt. Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen, diverse Side-Projekte, Literatur, etc. pp., die der Band die Tore geöffnet hat. In einschlägigen Magazinen oder Sendungen, gilt es heute als faux-pas nicht über die neuen Schaffenswerke der Band zu berichten.
Ein Album wie ein sterbender Stern: kalt, gewaltig, unvergänglich.
„Alles schon geschrieben, alles schon gedacht“, knurrt Blixa Bargeld, als würde er in die Leere sprechen. Die Eröffnung von „Wie lange noch?“ fühlt sich an wie ein Schlag ins Nichts: stoisch hämmerndes Getrommel, begleitet von kalten, apokalyptischen Klangflächen. Es drückt, es schiebt, es bedrängt. „Die Tricks sind ausgegangen“, murmelt Bargeld, seine Worte blutrot auf schmutzigen Flügeln – ein hoffnungsloser Bericht in einer zerfallenden Welt. Die Musik wächst zu einer dröhnenden, fast unerträglichen Ekstase. Es ist, als würden die Neubauten ihre eigene Vergangenheit durch einen rostigen Filter pressen. Herrlich.
Ein Hauch von Endlichkeit liegt über allem. Nach über vierzig Jahren greifen die Berliner tief in ihre Ursprünge und kehren zur rauen Freiheit improvisierter Klangflächen zurück. „Rampen“ nennen sie diese Form: ein rohes, spontanes Chaos, getragen von minimalen Absprachen. Bargelds Texte sind Bruchstücke, verlorene Gedanken in einem Raum, der sich aufzulösen scheint. Schon immer waren diese Rampen ein Werkstoff für die Studiomaschine, doch diesmal fühlt es sich für immer an.
Warum jetzt? Vielleicht, weil nichts Neues mehr bleibt. Weil nichts Relevantes passiert. Ein melancholisches Echo hallt durch „Rampen“, besonders im leisen, fast resignierenden „Before I Go“. Doch es gibt Widerstand. „Isso isso“ schlägt mit unerbittlicher Präzision zurück, während „Besser isses“ wie eine Stahlbürste kratzt, voller wilder Vitalität. Andere Stücke wie „Pestalozzi“ und „Gesundbrunnen“ flackern wie verlorene Lichter in der Dunkelheit. Meine Empfehlung, hört euch “ Ist Ist“ im Dubfire Remix an.
„Rampen“ ist kein Album – „Rampen“ ist ein Statement!
The Jesus and Mary Chain – Glasgow Eyes
Es gab auch diesen einen JAMC-Moment für mich. Im Spätherbst 1984 lauschte ich „John Peel’s Music“ beim Britischen Soldatensender BFBS. Hier fand ich jede Woche neue Anregungen musikalischer Art. Hier fand meine musikalische Sozialisierung statt. Und der legendäre John Peel spielte zum ersten Mal im Radio die Debütsingle „Upside Down„. Mein Herz fing sofort Flammen für die Wall of Feedbacks, die sägenden Gitarren und die zuckersüßen Melodien dieser zweieinhalb Minutensongs der schottischen Reid-Brüder.
There must be an answer to the question I don’t know..
The Jesus And Mary Chain kehren mit ihrem neuen Album „Glasgow Eyes“ zurück und zeigen sich experimentierfreudig wie nie zuvor. Die einst streitlustigen Reid-Brüder wirken heute harmonisch – eine neue Einigkeit, die sich auch in ihrer Musik widerspiegelt. The Jesus and Mary Chain müssen niemanden etwas beweisen. Doch statt sich als Nostalgie-Act mit einem umfangreichen, hitgespicktem Portfolio uu präsentieren, schmeisst die Band noch mal die Feedback-Maschine an und klappt das Visier runter.
„Glasgow Eyes“ ist ihr erstes Album seit der Reunion, das vollständig neues Material enthält, und präsentiert sich sowohl als Hommage an ihre Wurzeln als auch als mutiger Schritt in neue klangliche Gefilde. Die Lead-Single „Jamcod“ – mein Song des Jahres – beeindruckt mit treibenden Beats, harschen Gitarren und düsteren Synthesizern, die eine atmosphärische Dichte schaffen. Dabei erzählt der Song von den Exzessen, die einst beinahe das Ende der Band bedeutet hätten. Mit „Jamcod“ gehen die Reid-Brüder bei den legendären Suicide längsseits, bevor sie die ebenfalls geliebten Sex Pistols mit an Deck holen.
Der Opener „Venal Joy“ überzeugt mit weiblicher Gesangsunterstützung und einem mitreißenden Drive, der jeden Ballast der Vergangenheit abschüttelt. Schon hier merkt man, dass sich in kreativer Hinsicht einiges getan hat. Bei den Reids müssen sich einige Werke von Kraftwerk und Can und Jazzplatten in den Monaten vor „Glasgow Eyes“ auf dem Plattenteller gedreht haben.
Doch das Album hat auch seine leisen und mystischen Momente: „Mediterranean X Film“ schleicht sich mit flüsternden Vocals und sphärischem Klang an, während „Chemical Animal“ mit melancholischer Intensität und dunklen Drogen-Geständnissen fasziniert.
Neben düsterer Experimentierfreude bleibt der typisch ironische Humor der Band erhalten. Songs wie „The Eagles and The Beatles“, der überraschend den Rolling Stones Tribut zollt, oder „Discotheque“, der heitere Melodien mit scharfsinnigen Texten verbindet, zeigen die Vielseitigkeit der Reids. Zum Abschluss rumpelt „Hey Lou Reid“ im Geiste von The Velvet Underground und fügt sich perfekt in die abwechslungsreiche Trackliste ein.
Zum Hinknien schöne Melodien wurden den Schotten in die Wiege gelockt, fürs Auge gab es auch immer etwas. Mein Vinyl sieht im deckenden Rot einfach fantastisch aus und klingt ebenfalls grossartig.
Zum Hinknien schöne Melodien wurden den Schotten in die Wiege gelockt, fürs Auge gab es auch immer etwas: mein Vinyl sieht im deckenden Rot einfach fantastisch aus und klingt ebenfalls grossartig. „Glasgow Eyes“ ist ein Album voller Kontraste: es vereint für mich die nostalgische Rückblicke, schmerzvolle Ehrlichkeit und lebendige Energie. Auch mit vier Dekaden Bandgeschichte auf dem Buckel, beweisen The Jesus And Mary Chain mit diesem Werk, dass sie musikalisch nichts von ihrer Relevanz und Kreativität eingebüßt haben.
Danke an alle Leser dieses kleinen, aber feinen online-Music-Mags. Danke an alle meine schreibenden Kolleginnen und Kollegen. Persönlich wünsche ich mir ein Jahr 2025, dass neben vielen, neuen Musikalitäten, den Frieden ein wenig mehr in den Fokus nimmt.
Vinyl ist für mich nicht nur Musik, sondern ein Erlebnis. Die von mir beschriebenen Alben, habe ich alle ausgepackt, angeschaut und angehört. Gerne auch mehr als ein Mal. Bei den Reviews mache ich mir immer ein eigenes Bild durch entsprechende Recherche und das konzentrierte Anhören. Das ist meine Art den Künstlern entsprechende Wertschätzung für ihre Kreativität und Kunst entgegenzubringen.
So kann es vorkommen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens, die Platten in seltenen Fällen vergriffen sind.
Dazu gibt es für mich keine Alternative: über Platten schreiben, in dem man die Pressetexte abschreibt ohne die Platte in den eigenen Händen gehalten zu haben, macht für mich keinen Sinn. Danke für euer Verständnis.
Lagartija Nick.
Danke Thomas für die die vielen Platten, die du uns un deiner ausdrucksvollen Art immer vorstellst, du hast da wirklich eine Gabe, bitte weiter so! Und danke auch an das gesamte Team, gutes neues Jahr allesamt.
Hans Georg Lehnert