Samstagnachmittag, normalerweise wäre ich jetzt im Stadion und würde meine Lieblingsmannschaft anfeuern. Leider ist aktuell Stadion nicht, also lass ich mir von Derozer ihre Songs um die Ohren hämmern. Sehr druckvoller Powersound, ohne Umschweife schnörkellos nach vorne, mit wechselnden Tempi, markanter Stimme und einfallsreichen Melodien kommen mir über die Boxen entgegen. Das ersetzt natürlich in keinster Weise die Stadionatmosphäre, aber guter Punk lässt meinen Adrenalin-Spiegel auch steigen und Füße und Hände beginnen den Rhythmus der Songs aufzunehmen.
Derozer beglücken uns in 2020 bereits mehrfach mit schwarzem Plastik. Dabei handelt es sich um keine neue Scheibe, sondern um eine Retrospektive. Seite A enthält das Album „Di nuovo in Marcia“ – was soviel bedeutet wie „Zurück auf dem Marsch“ – das 2004 als CD bereits bei Mad Butcher Records erschienen ist. Seite B enthält die „144 EP“ aus dem Jahre 1994, ein Demo aus dem gleichen Jahr sowie zum ersten Mal überhaupt auf Vinyl die Westwood Studio Session aus 2003. Insgesamt kredenzen uns Derozer 22 Songs (!), die sehr deutlich die musikalische Entwicklung der Band zeigen. Als Ratschlag für den geneigten Hörer: beginnt mit der B-Seite und wechselt dann zum „Di nouvo in Marcia“. Ist irgendwie interessanter, finde ich.
Das A-Seite suggeriert ohne Zweifel, die Zeichen stehen auf Sturm! 2004: Italien schied sang– und klanglos aus der EM aus und das Land leistete sich zwischen den Amtszeiten von Silvio (Bonga-Bonga) Berlusconi gleich zwei Präsidenten. Auch innenpolitisch bewegten Italien einige Themen. Nicht zuletzt versuchte in diesem Kontext die Lega Nord von Herrn Berlusconi das Land in den reichen Norden und den armen Süden zu spalten. Dieses Umfeld, die Unruhe, die Unzufriedenheit spiegelt das Album deutlich wider. Songs wie „Di nuovo in Marcia“, „Vincere“ oder „La Nuvola“ sind meine Favoriten. Das absolut sehenswerte Video könnt ihr hier anschauen.
Die B-Seite kommt mit der „144 EP“ als Opener daher. Hier gefällt mir das Titelstück, in dem eine Bezahl-Sex-Hotline besungen wird. Die Songs des 1994 Demos hauen in die gleiche Kerbe wie die EP, sind gut gemachter Punk-Rock ohne, aus meiner Sicht Ausfälle, aber eben auch ohne Höhepunkte. Die „Westwood Studio“ enthält vier Tracks, die Derozer 2003 international verständlich in Englisch zum Besten geben. „This is not Disneyland“ ist musikalisch gesehen sicherlich ein Highlight, frische, abwechslungsreiche Melodie treffen auf einen ausdrucksstarken Text. Hier zeigt sich deutlich der Reifeprozess der Band; musikalisch und textlich wird es eine Nummer härter. Die „144 EP“ ist noch eher ironisch geprägt, während das Album sehr erwachen und gereift erscheint. Die Themen politischer und sozialer Färbung werden auch viel deutlicher und musikalisch aggressiver interpretiert.
Derozer haben seit ihrer Gründung in Vicenza 1991 für einen respektablen Output an Alben, Samplerbeiträgen und bis 2004 über 800 Gigs weltweit gesorgt und so ist in Italien Derozer mit an der Spitze der heimischen Punk-Bands. Ich habe das Glück durch meine italienische Frau, dem Land des Stiefels ein wenig affin zu sein und so kann ich den Texten einigermaßen folgen und allen Hörern, welche dem Italienischen nicht mächtig sind, zu sichern, da es hier um die üblichen Themen Liebe/ Hass, Krieg/ Frieden sowie politisch gefärbte Inhalte geht. Also mehr oder weniger handelsüblich für Punkbands. Musikalisch scheint die Band in der von Nähe von BAD RELIGION ihre Wohlfühlzone gefunden zu haben. Alles in allem gut gemacht und absolut hörenswert.
Positiv zu erwähnen bleibt noch, das mit dem Album ein Inlay beiliegt, auf dem die (nicht alle) Texte abgedruckt sind und die Geschichte von Derozer kurz abgerissen wird. Die 22 Songs überschreiten – wenn überhaupt selten die zweieinhalb Minuten Länge. Warum auch? In der Kürze liegt die Würze. Deshalb bekommt das Album von mir die Wertung: scharf wie Pasta Arrabiata und damit eine absolute Empfehlung zum Hören.
Wer „Di nuovo in Marcia“ erwerben möchte, kann das hier bei Mad Butcher Records tun.
Lagartija Nick, Dezember 2020
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Another fabulous vinyl-review of yours and there is even some historical background about Italy given. This not really my sort of music, but still it is not too bad. After all your review is an entertaining read.