“Dive Deep Down” ist das Debütalbum der Stockholmer Viererformation DULL, die keine Unbekannten sind in der schwedischen Rock- und Punkszene.
Sie kommen von Bands wie Dead Vibrations, Twin Pigs, Tiger Bell, Mary’s Kids und Boris and the Jeltsins.
Das erste Album von DULL bietet sphärisch anmutende, obskure Gitarrenmelodien, knallige, treibende Drums und eine sich steigernde Intensität mit einprägsamen Melodien zu einem Refrain, der zum Mitsingen animiert, neben dem catchy Chorus.
Ich gestehe, ich habe mir sehr viel Zeit gelassen dabei, dieses Album, das bereits am 17.02.2023 auf Startracks erschienen ist, zu reviewen. Es war gut, dass ich mir Zeit genommen habe, denn dieses Album bietet so viel mehr, als ich anfänglich dachte. Ich würde sagen, bei DULL gibt es Dinge zu entdecken, feine unauffällige aber großartige Dinge, die dann ein gut abgestimmtes Ganzes ergeben.
Auf dem Zettel vom PR & Labelservice heißt es: „DULL sind ganz sicher nicht langweilig.“ Und so fängt es schon mal an, dass das erste Wort, dass einem zum Übersetzen des Namens DULL einfallen kann, einen eventuell auf die falsche Fährte führt. Es stimmt zwar, langweilig sind sie sicher nicht, darauf kann man sich aber nicht ausruhen als einzige Assoziation. Das Wort dull bei einer Alternative Rock und Punk Band in Verbindung mit dem Wort langweilig zu setzen, hat natürlich erstmal eine negative Konnotation. Es suggeriert für mich einen Widerspruch und Makel zu einem ansonsten laut rebellierenden Musikstil. Ich erwarte nach diesem Vergleich also bereits vor dem Hören einen Fight der Gegensätze, die es herauszuarbeiten und zu unterstreichen gilt, um im Ergebnis kontrastreich und erst recht „Nicht langweilig!“ zu sein. Darum geht es bei DULL aber überhaupt nicht, ahne ich beim weiteren Hören und Cover studieren langsam.
Das Wort dull sehe ich plötzlich als das andere Adjektiv, das es eben auch sein kann. Es beschreibt eine Materialeigenschaft oder Oberflächengestaltung, die ich nur zu gut aus meinem Handwerksberuf kenne. Dull Finish beschreibt eine Mattierung. Ich persönlich liebe ja Mattierungen viel mehr als die, wie eine olle Speckschwarte, glänzende Politur. Politur ist Politur, basta, da gibt’s nicht viel Spielraum. Aber Mattierung: Seidenmatt, strichmatt, schmirgelmatt, eismatt, sandmatt, diamantmatt, kreisend, kreuzend, quer oder längs… Aaaahhh! So vielfältige Möglichkeiten. Auch die Band DULL umarmt und feiert diese weitere Bedeutung des Wortes dull richtig genüsslich, wie ich finde, und widmet wohl ihr gesamtes Albumkonzept dieser superschönen Eigenschaft in vielfältiger Weise. Das Album ist absolut Punk und ALT-Rock der frühen 00er Jahre, dessen teils harte metallische Klänge unter sanften Tönen mattiert und geschliffen wurden; wie zwischen Kieseln im Flussbett oder in der Meeresbrandung. Mattiert macht eine metallene Oberfläche einen beinahe samtigen, aber nicht kuschligen, Eindruck und das passt auch prima zum Stil von DULL. Weich verpackt massieren sie ihre kritischen Songs in mein Gehirn, während die Stimme von Canan Rosén wie aus der Ferne gesungen wirkt.
Aber der Matt-Effekt zieht sich noch tiefer in das Innenleben des Albums, je näher ich den Songs komme. Wie wirkt eine Mattierung? Wie Reflexionen einer polierten Fläche die Farben der Umgebung widerspiegeln, werden im Gegensatz durch das Mattieren die Lichtreflexionen diffus. Es tritt die Eigenfarbe eines Metalls plötzlich in den Vordergrund. Auch Eigenheiten, Macken und Dellen werden neben der Farbnuance gut sichtbar. Sogar ein ungeübtes Auge sieht mit einer Mattierung beispielsweise den Farbkontrast zwischen grauem Edelstahl und weißem Silber: True Colors. Und genau dort setzt für mich an, was uns Frontfrau Canan Rosén über ihre Single mitteilt:
„Dieser Song handelt von dem Gefühl, das man bekommt, wenn man jemanden so sieht, wie er wirklich ist, und erkennt, was für ein Verlierer diese Person ist und immer war. Es gibt zu viele Leute, die behaupten, etwas zu sein, was sie nicht sind oder etwas zu tun, was sie nicht können.“
Für mich als Handwerkerin ist es wie das Gefühl, das ich bekomme, wenn ich eine Fläche mattiere. Ich sehe dann alles, jede Fuge, jede Pore, jeden Farbunterschied. Allerdings sind für mich Macken und Eigenheiten nicht immer Zeichen des Verlierens. Im Gegenteil, es ist gut Fehler liebevoll zu umarmen und zu akzeptieren, sich so anzunehmen und zu zeigen, wie man wirklich ist, ohne ständig die Bilder der Umgebung zu spiegeln und so von einem unsicheren Selbst abzulenken. Eigenheiten machen auch Werkstücke viel schöner und ehrlicher, als die perfekten, aus dem Automaten gepurzelten Klone. DULL gelingt dieses DIY Feeling und diese Selbstliebe, sie ruhen zutiefst in sich, sogar wenn sie in “The Problem” über depressive Verstimmung in dunklen skandinavischen Wintern singen. Der Sound wird dabei getragen durch ihren eigenen Stil, dessen milchige Gitarren-Riffs zum Fallenlassen und Entspannen einladen, von mir aus auch ohne mich zu langweilen. Falls man sich beim Entspannen überhaupt langweilen kann, bzw. sich das Langweilen nicht sogar wünscht. Denn Langeweile ist doch in meinem busy Alltag eigentlich genau das Ziel, das ich erreicht habe, wenn alle Aufgaben erledigt sind oder ich es tatsächlich schaffe, Pressure zu ignorieren? Faulenzen und Langeweile sind Luxus. Quasi die höchste Stufe der Meditation, die ich wohl eh nie erreichen werde. Einfach nur sein – wie geil wäre das! Und da annähernd hinzukommen, dabei könnte mir das Album von DULL helfen, weil ich einfach Alternative, Punk und Indie-Klänge am meisten mag, mich aber gleichzeitig sanft zudecken und von wiederkehrenden Refrains tragen lassen will zum Abschalten.
https://youtu.be/nS-iEwXjqz8
Unboxing, jetzt wird ausgepackt!
Die Haptik:
Wenn ich erstmal so das in Plastikfolie eingeschweißte Album in der Hand halte, ist alles glatt und glänzend. Runter mit dem Plaste! Sobald die Plastikhülle außen entfernt ist, fühlen die Finger es schon. Mattierung, Baby. Das Cover ist aus einer rauen, selbstverständlich matten Kartonhülle mit Unebenheiten gefertigt. Es erinnert mich in seiner Schlichtheit fast schon an die Debüt-LP von Ton Steine Scherben und der David Volksmund Produktion.
Die Optik:
Die Basis-Farbe ist ebenfalls wie bei TSS zurückhaltend an den Naturton angelehnt. Unaufgeregt und keine 10mm Schrifthöhe: der Namenszug und der Titel des Albums. Aber das ist nur eine Hilfe für die Eiligen, dazu später mehr. Die Schrift bildet einen vagen Rahmen für die Grafik im Zentrum. Die Grafik greift gelassen das Quadrat der LP-Form auf und kommt unaufgeregt mit gerade einmal vier Farbtönen und vier geometrischen Formen aus. Überhaupt ist die Vierzahl bei DULL öfter zu finden, wer suchet der findet. Die Hauptgrafik besteht aus den vier minimalistisch designten Covern der Single-Auskopplungen. Ihre aufgeräumte Geometrie (Quadrat, Dreieck, Gerade und Kreis) ergibt jeweils die stilisierten vier Buchstaben: D-U-L-L. Also doch ein fetter Namenszug auf dem Cover bei genauem Hinsehen! Hier sehen wir die Schönheit von skandinavischem Design in seiner einfachen und funktionalen Klarheit. Die Coverart stammt übrigens von Bandmitglied Louise Erdmann (Dead Vibrations).
Im Inneren der Kartonhülle befindet sich die Papierhülle mit den Lyrics auf der einen Seite und einem Bandfoto auf der anderen Seite, aufgenommen von Joakim Eklöf. Konsequent wurde auch hier wieder auf den matte effect gesetzt bei der Bildbearbeitung des Bandfotos: Grobkörnigkeit, Rauschen, geringer Farbkontrast, geringe Tiefenschärfe, leichte Unterbelichtung.
Die Poetik:
DULL – DIVE DEEP DOWN, Ist durch die Wiederholung der Anfangsbuchstaben eine klassische Alliteration bzw. ein Tautogramm. Auch hier wird weiter mit dem weniger-ist-mehr Prinzip die volle Wirkung erzielt und taktisch eingesetzt, um die geistige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken durch das Auge der Betrachtenden. Von den Augen geht’s zu den Ohren, die sich selbst die wohlklingende Wortkombination innerlich im Rhythmus aufsagt. Diese vier Kurzworte enthalten nebenbei jeweils nur vier Buchstaben. Fabulös!
Das Fazit:
Ich persönlich finde ja die Bandbesetzung perfekt, die hier aus den anderen Bandprojekten der Mitglieder neu entstanden ist. DULL sind: Louise Erdmann – Gitarre / Gesang, Canan Rosén – Gesang, Max Linden – Bass und Elias Jonsson – Schlagzeug. Hängematte in den Garten oder neben den Kachelofen hängen, Vinyl auflegen, Album betrachten, Lyrics lesen und alles gut einwirken lassen.
Das Album kaufen könnt ihr zum Beispiel hier bei Bandcamp.