Na da habe ich mir mal einen Wälzer auf den Nachttisch geholt. Allein der schier endlose Titel könnte ein Songtitel von Tocotronic sein. Sie würden vermutlich eher “Kultur und Politik in einem unsicheren Leben” titeln. Warum ich damit in diese Rezi einsteige? Weil es sicher wesentlich entspanntere Lektüre für die Zeit vorm Schlafen gibt, als dieses Buch. Allerdings auch momentan (fast) nicht Spannenderes. Die Themen der Zeit die uns umtreiben, außer der Pandemie und deren Auswirkungen, sind doch auch das Prekariat, neoliberale Gesellschaft, Rassismus, Diskriminierung, Globalisierung, Umweltschutz und sehr Vieles mehr. Dem Neofelis Verlag geht es darum, die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst zu reflektieren.
Und ich versuche nun, diese Rezension zu “Kultur und Politik im prekären Leben”, denn vorwegnehmen kann ich schon, dass das ein wirklich aufschluss- wie auch umfangreiches Buch ist, mich kurz zu halten.
Das “Intro: Prekäres Soundgewebe” gibt eine sehr gute Beschreibung dessen ab, was der Leser erwarten kann. Eine mögliche Streitschrift. Der Untertitel “Solidarität unter Schneeflocken” weist auf das Alter der angesprochenen Gruppe hin, die gemeinhin als “Millennials” bekannt ist. Also geboren zwischen den frühen 1980er und späten 1990ern. Abwertend bezeichnet man sie als Schneeflocken, da sie sich, angeblich, in ihren Filterblasen verkriechen.
Im Grunde ist doch fest zu stellen, dass viele Schneeflocken nicht eine tote Masse sind und nicht die Menge allein die Stärke ausmacht, sondern wie sie vernetzt sind. Die Verknüpfung und ihre Art zu handeln.
Die Autoren stellen sich einzeln vor. Timo Klattenhoff, auch einer der Herausgeber, ist Produktentwickler und Philosoph. Ihm ist es ein Anliegen, prekäre Verhältnisse aufzuzeigen und zu diskutieren. Er ist auch (Mit)Herausgeber dieses Bandes. Weitere Herausgeberinnen sind Viola Nordsieck (promovierte Philosophin, Autorin und freie Wissenschaftlerin) und Johanna Montanari (Autorin und Journalistin, u.a bei “der Freitag”). Insgesamt 17 Autoren*innen erzählen von ihren selbstgewählten oder auch erzwungenen prekären Verhältnissen und ihren Gedanken dazu.
Ich picke da nun eine Autorin raus, Sarah Fartuun Heinze. Sie ist Schwäbin und Wahl-Brandenburgerin. Sie berichtet darüber, wieso sie in Cottbus geblieben ist. Das eine sind die beruflichen Gründe, das andere ihre klare Sicht auf den Rassismus als Gesamtdeutsches Problem. Sie engagiert sich mit vielen anderen Aktivist*innen bei #WannWennNichtJetzt. In Cottbus gibt es offensichtlich eine sehr gut vernetzte rechte Szene. Und diese Szene als rein Ostdeutsches Problem anzusehen und deswegen bspw. wieder zurück nach Süddeutschland zu ziehen ist nicht die Lösung. Und die Lösung, wie man diesen Menschen mehr Menschlichkeit ins Bewusstsein bringt, ist nicht leicht, der Ansatz gefällt mir äußerst gut! Sie zitiert Beppo Straßenfeger aus Michael Endes Momo. Eine kleine Passage an die sich sicher all die erinnern können, die, wie auch wir alle beim Vinyl-Keks, Arbeit machen, weil sie sie machen wollen.
Es gibt keinen ökomischen Gegenwert, kein Geld dafür. Man geht auf die Straße, macht Aktionen, singt Lieder, (oder rezensiert Bücher und Platten) vernetzt sich mit anderen, gleichgesinnten Menschen, die diese Welt auch für eine Gute halten. Die Hoffnung haben, auch im braunsten / blauesten Nest dieser Republik, die Netzwerke der Menschenverachter aufzuzeigen, zu benennen und im besten Fall auch wieder los zu werden!
In sehr emotionalen und doch “auf dem Boden gebliebenen” Berichten zeichnet dieses Buch also ein möglichst umfassendes Bild dessen, was die Millennials umtreibt. Teilweise ist es auch sehr sachlich, doch immer gut verständlich. Mit Bezügen zwischen Adorno, Michael Ende, Martin Büsser oder auch den Die Ärzte hat es mir wirklich Spaß gemacht, dieses umfangreiche Buch in die Hand zu nehmen.
Kultur und Politik im prekären Leben erschienen im Okt 2020, Softcover, 15 x 21 cm, 378 Seiten für 20€ beim Neofelis Verlag