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Ravensburg. Bekannt für seine pfiffigen Spielideen für alle zwischen 0 und 99. Die Einwohner*Innen nennen das Wahrzeichen der Stadt neckisch den “Mehlsack”, treffen sich samstags in der Früh auf einen Schnack auf dem Wochenmarkt, bevor sie den Sonntag am nahe gelegenen Bodensee oder in den ebenso nahe gelegenen Bergen verbringen. Ein oberschwäbisches Bilderbuchidyll. Ravensburg ist auch die Heimat von Michael Moravek, der hier mit “Lost” den ersten Teil einer Dilogie (der zweite Teil wird im Winter ’22 folgen) vorlegt. Wobei das mit der Heimat ja immer so eine Sache ist. Auf “Lost” verflechtet Michael Moravek seine eigene Migrationsgeschichte und das damit verbundene Gefühl, nirgends so recht eine Heimat zu haben auf geradezu literarische Weise in neun gar wunderbare Chansons.
Moravek betrachtet nach eigener Aussage Songwriting als Handwerkskunst. Somit scheint er sich doch immerhin schon einen gewichtigen Teil der schwäbischen Mentalität einverleibt zu haben, sofern man “Handwerk” als “Arbeit” versteht. Und ja, Arbeit muss nicht zwangsweise negativ behaftet sein. Ähnlich wie eines seiner großen Vorbilder, Bob Dylan, gelingt es ihm mit Bravour, seine eigenen Gedanken und Gefühle in größere Kontexte einzubetten. Und ähnlich wie bei Dylan hat das dann auch einen gewissen Touch von Maloche. Schöner und bereichernder Maloche.
Doch nicht nur Dylan zählt als große Inspirationsquelle für Michael Moravek. Die Palette derer er sich bedient, reicht von großen bis weniger großen Persönlichkeiten der Literaturgeschichte, von Herman Melville bis Fjodor Dostojewskij und von ebenso großen, bzw. weniger großen Persönlichkeiten aus der Musikhistorie, vom bereits genannten Bob Dylan bis hin zu Elvis Costello. Ich selbst fühle mich beim Hören von “Lost” zudem angenehm an das Schaffen und die Intensität von Mark Oliver Everett, solo oder mit den Eels, erinnert. Doch trotz dieser immensen Bandbreite an Inspirationsquellen ist Michael Moravek weit davon entfernt, lediglich die Vorbilder zu kopieren. Seine Musik sowie seine dazugehörigen Texte bergen ein enormes Potenzial an Eigenständigkeit und Wiedererkennungswert. Er verpackt geradezu meisterhaft verfasste intime Geschichten in herrlich unaufgeregte Musik und selten habe ich es erlebt, dass die Aussagekraft eines, nein, von neun Songs so unzertrennbar mit der Aussagekraft und Emotion der Musik verbunden ist.
Unterstützung erhält Michael Moravek auf “Lost” von jede Menge Freunden und Freundinnen aus aller Welt. Womöglich ein Indiz dafür, dass er eben diese als seine Heimat sieht? Neben den Mitgliedern seiner Begleitband Electric Traveling Show (William Widmann, William Bruce Kollmar und Ayu Requena Fuentes) haben ihm Troy Brenningmeyer, Peter Schwaderer, Herbert Walser, Bastian Brugger und Wibke Schaller bei der Entstehung dieses musikalischen Meisterwerks geholfen. Thomas Fuchs hat dieses in und um Ravensburg herum aufgenommen, bevor es Brian Leach in Chicago gemastert hat. Hier bekommt die Vokabel “Weltmusik” eine ganz neue Bedeutung. “Lost” wirkt nicht nur ob der rund um den Globus verteilten und beteiligten Mitwirkenden, sondern eben auch wegen seiner universellen Strahlkraft als ein Stück Musik, welches überall funktioniert, berührt, einen mit auf die Reise nimmt.
Der Kosmos “Michael Moravek” hat neben “Lost” übrigens noch einiges mehr zu bieten. So ist “Lost” bereits die dritte Soloveröffentlichung des Künstlers und auch mit seiner vormaligen Band Planeausters hat er es auf satte fünf Alben gebracht. Das Gesamtwerk von Moravek ist, ihr ahnt es schon, unbedingt ans Herz zu legen. Wer mit “Lost” beginnen möchte, kann die Platte ab dem 24.06. u.a. hier erwerben.
Backseat zeichnet auf Labelseite verantwortlich für den Release. Dieser geizt auch optisch nicht mit gewissen Reizen. Ein erdendes Inside/Out-Gatefold mit allerlei Informationen und natürlich den Texten gespickt. Auf dem Cover vergnügt sich die Jugend mit dem was man wohl so zwischen WK II und Vietnamkrieg gespielt hat – und leider auch heute noch tut. Kinder spielen Krieg – und das ist “Lost” Time! Keine verlorene Zeit hat dagegen der-/diejenige zu beklagen, der sich mit der Musik von Michael Moravek befasst. Obertipp!