Moor Mother aka Camae Dennis legt eine experimentelle Soundcollage zu britischer Kolonialgeschichte, Raubkunst und Sklaverei vor. Ein Album, das Anleihen aus Genres wie Rap, Free Jazz, Spoken Word, Poetry und Electro vereint. Denn die vielseitige Künstlerin Moor Mother ist absolut genreübergreifend aktiv, zum Beispiel auch als Punksängerin und Bassistin der Philly-Punk-Bands Girls Dressed as Girls und The Mighty Paradocs, in denen sie schon eher genannte Themen aufgriff in Songs wie WMD’S und Story of Africa.
Und natürlich überrascht es nicht, dass Moor Mother sich in Vancouver und Portland den perfekten gegenseitigen Support auf ihrer Tour mit Kim Gordon gibt, deren neuestes Album ebenfalls experimentelle Ansätze im Klangbild zeigt. Moor Mother’s Tour führt die Künstlerin und Aktivistin aus Philadelphia sogar an zwei Terminen im Herbst nach Deutschland, Tickets gibt es hier.
Ich habe für mich festgestellt, dass ich aufmerksam zuhören möchte und das Album keineswegs einfach nebenbei dudeln lassen will. Es enthält super viele Soundeffekte und natürlich künstlerisch total stark umgesetzte, informative Lyrics aus dem POC-Blickwinkel, die ich nicht verpassen will.
Wie ich mir nun die persönlich idealste Weise vorstelle, um zum ersten Mal das Album „The Great Bailout“ der interdisziplinären, Award-Winning Künstlerin Moor Mother (Camae Dennis) zu hören? Am liebsten in einer kleinen Location, in die ich zufällig getreten wäre und dort überrascht worden wäre von einer gelungenen Ausstellung mit künstlerischer Performance.
Und das ging so…
Der Raum hatte hohe Fenster und war in einer alten Fabrik gelegen. Weiche Vorhänge verdeckten die Glasscheiben, hinter denen die Dunkelheit das Glas jeden Lichtstrahl wie ein Spiegel aufnehmen und reflektieren ließ. In dem Raum waren Sitzwürfel und eine große Futon-Matratze, doch ansonsten war der Raum leer wie ein Kinosaal. Dadurch war den beiden Bildern an der rauen, weißgekalkten Wand gegenüber, die volle Aufmerksamkeit gegeben. Sie wurden von zwei Lichtquellen milde angestrahlt, sodass die restliche Kammer im Dämmerlicht blieb.
Ich war ganz allein dort und trat näher an die beiden quadratischen Bilder, die eine Größe von ca. 50 – 60cm hatten. Die erdigen Farben einer Mischung aus Acryl, Eisenoxid, Kohle und Holz ließen die Bilder wie uralte Sepia aus den ersten Tagen der Fotografie wirken.
Doch die Motive waren eher untypisch. Es war nicht die Perspektive europäischer Reisefotografen auf Afrikas Landschaft und Menschen um 1840. Es waren nicht diese stummen Augen und Münder, die in steifen Posen verharrenden Körper, seltsam befremdlich positioniert, der Seele beraubt, die diesen ersten Fotografie-Stil für mich grundsätzlich ausmachen.
Es war ein lebendig gewordenes, sprechendes Bild in der Metamorphose zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Halb Fotografie, halb Gemälde; die Grenzen verwischend, auslotend, sich geheimnisvoll auflösend im Nebel einer neuen Dimension.
Es war der zweidimensional manifestierte Kontakt zum Ahnengedächtnis und der Macht schwarzer Mythen. Auf dem Schild daneben stand der Name der Künstlerin aus San Francisco: Sydney Cain. Die Titel der Bilder lauteten „All that Arrives at the Shore“ (2022) und „When and Where the Ancestors Speak for Themselves“ (2022). Ja, das war es!
Ich legte mich auf das Futon und betrachtete die Bilder, als Plötzlich der Sound erklang. Es war, als würden die Bilder Stimmen und Töne bekommen, als käme eine weitere Dimension hinzu. Moor Mother brachte ihren Part mit Spoken Word, dazu spielte sie Spuren ein als meditatives Summen, Seufzen, Singen, Rappen. Überlagert, wie die einzelnen Schichten auf einem Ölgemälde, waren die Features verschiedener Künstler*innen (Lonnie Holley, Al-Sultani, Justmadnice, Sistazz of The Nitty Gritty, Kyle Kidd u.A.) mit Soundfetzen aus futuristischen Geräuschen, gespenstischen Hörspieleffekten, elektronischen Klängen, sphärischer Tonkunst. Musikalisch arrangiert, komponiert und rhythmisch ineinandergreifend. Alles verschmolz zu einer gemeinsamen Tonebene in der live Performance. Die am Philadelphia Art Institute fotografiestudierte Moor Mother entwickelte erdrückende Bilder in meiner Phantasie, wie einen realen Thriller.
Es war eine überwältigende Soundinstallation, die Geschichte intensiv spürbar und erlebbar werden ließ in ihren emotionalen Gedichten, umtriebig, nachdenklich und wütend machte. So, wie die beiden Kunstwerke von Sydney Cain das Visuelle ansprachen, führte die interdisziplinäre Künstlerin Moor Mother (Camae Dennis) mit ihren Gedichten und ihrer Musik den inneren Dialog auf den Weg, wie ein poetisches Hörspiel.
Nach der Performance fiel mein Blick auf eine LP, die ich kaufen und mitnehmen konnte. Ja, tatsächlich, sie zeigte auf der Vor- und Rückseite als Coverart jeweils die beiden Gemälde von Sydney Cain. Kein Text, kein Gedrucktes zerstörte die Komposition der Künstlerin. Lediglich ein kleiner Aufkleber auf der Schutzfolie zeigte den Namen Moor Mother sowie den Titel des Albums „The Great Bailout“ im Schrifttyp Old English.
Sämtliche Infos befanden sich im Inneren, teils ebenfalls in Alt-Englischen Lettern gedruckt. So, als wollten die historischen Buchstaben demonstrativ ihre Zeit aus einer anderen Perspektive erzählen. Ja, sie begannen plötzlich sich zu bewegen und ich rieb mir die Augen, denn jetzt sprachen sie auch noch zu mir. “Geschichte verdient es, immer wieder neu fokussiert betrachtet zu werden, bis wir mehr und mehr Facetten erkennen. Es ist nie zu spät, sie neu zu erzählen,” sagten die Lettern selbstbewusst, deren Schnörkel ehemals so viel Ungerechtigkeit zwischen den Zeilen in die Welt getragen hatten. “Ich fange an, euch zu mögen, weil ihr euch transformiert”, sagte ich und nahm die LP für Zuhause mit.
Leider habe ich nun keine Originalgemälde und keine Live-Soundinstallation zu Hause, aber das geht auch ganz gut mit Vinyl… In Ruhe auf dem Teppich liegen, dazu das Cover der 12″ betrachten und sich die Lyrics reinziehen. Es ist definitiv mehr als Musik, es ist die volle Ladung avantgardistische Klangkunst of History, Art, Music, Poetry, Activism & Witchcraft Magic (Old English grüßt). Mega!
Erschienen bei ANTI- Records, hier erhältlich in Aluminium oder Schwarz. Produziert von Sistazz of The Nitty Gritty, Raia Was, Visay Lyer, Ambrose Akimba, C. Spencer Yen, Maja Ratkje und Aaron Dalloway, teilweise während der Corona Pandemie.
Moor Mother’s Gedichtbände FETISH BONES – BOOK OF POETRY und ANALOG FLUIDS – BOOK OF POETRY sind leider überall ausverkauft. Also falls euch eines in die Hände fällt, schnappt zu!