In der zweiten Folge unserer Reihe “MusInclusion” stellen uns die unter dem Namen “Rock Twins” bekannten Schwestern Janine und Jessica, 30 Jahre, aus Kempten im Allgäu, Rede und Antwort. Sie sind beide von Geburt an blind. Nachfolgend berichten Sie über ihre Erfahrungen, die sie zum Thema Barrierefreiheit bei zahlreichen Konzerten (vor Corona…) in der Punk-Szene sammeln konnten.
Hallo Janine und Jessica, schön, dass ihr Zeit für uns gefunden habt. Im letzten Interview (#1 Annika) sind wir zu dem Schluss gekommen, dass das Thema “Inklusion” jede*n etwas angeht. Inwiefern betrifft es euch beide?
Wir sind beide von Geburt an blind und Inklusion und Barrierefreiheit sind ein wichtiges Thema für uns in allen Lebensbereichen, natürlich auch auf Konzerten. Uns ist es wichtig, dass unsere Mitmenschen uns ganz normal behandeln und sich nicht scheuen, uns anzusprechen und Fragen zu stellen.
Habt ihr das Gefühl, wenn es um Inklusion/Menschen mit Behinderung (vor allem in den Medien und dem öffentlichen Leben) geht, dass die Vielfältigkeit der Behinderungen meist nicht thematisiert wird (z.B. eben auch Sehbehinderungen/Blindheit, aber auch psychische oder chronische Erkrankungen etc.)?
Wenn es um Barrierefreiheit im öffentlichen Raum geht, haben wir oft das Gefühl, dass die meisten Menschen denken, es sei mit einer Rampe für Rollstuhlfahrer getan. Natürlich ist das auch wichtig, aber es gehört so viel mehr zur Barrierefreiheit dazu. Z.B. sind für unseren Personenkreis sprechende Bankautomaten, akustische Fahrplanauskünfte, Blindenampeln, taktile Leitlinien am Boden etc. von großer Wichtigkeit. Außerdem fällt uns immer wieder auf, dass oft nicht zwischen Sehbehinderung und Blindheit unterschieden wird, obwohl das ein großer Unterschied ist und beide Gruppen verschiedene Anforderungen haben.
Welche Erfahrungen habt ihr in den letzten Jahren damit in der Szene gemacht? Wie schwierig oder einfach ist es für Euch, selbständig und ohne Begleitung ein Konzert zu besuchen? Was oder wer ist dafür nötig, dass ihr einen entspannten Abend auf einem Konzert oder Festival haben könnt?
Die meisten Punk-Konzerte, die uns interessieren, finden z.B. in München oder Lindau statt. Im Allgäu ist in diesem Bereich leider so gut wie gar nichts geboten. Da wir aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht nach München und wieder zurückkommen können (der letzte Zug fährt um ca. 23:00 Uhr), sind wir sowieso auf einen Autofahrer angewiesen und deshalb dort so gut wie nie allein auf einem Konzert unterwegs. Allerdings sind wir z.B. schon ein paar Mal allein nach Berlin gefahren und haben dort ein Konzert besucht. Einmal war es dann so, dass eine befreundete Band von uns, The Zips aus Schottland, die an diesem Abend spielte, vor dem Konzert den Club mit uns abgelaufen ist, sodass wir eine grobe Vorstellung bekamen, wo sich alles ungefähr befindet (Bar, Toilette, Bühne etc.). Wenn wir dann doch einmal allein nicht weitergekommen sind, wurde uns aus dem Publikum gleich Hilfe angeboten, die wir dankend angenommen haben. Wir finden, das funktioniert aber auch nur so gut, weil die meisten Punk-Konzerte in kleinen, überschaubaren Venues stattfinden. Generell ist es für uns am entspanntesten, wenn wir von Anfang bis Ende eine Begleitperson dabei haben, die uns auch bei lauter Musik, die uns die Orientierung sehr schwer macht, überall hinbringen kann (wenn man z.B. vor die Bühne will, den Merchstand sucht etc.). Wir sind total begeistert von dem Projekt „Inklusion Muss Laut Sein“, von dem wir letztes Jahr erfahren haben. Sie vermitteln ehrenamtliche Begleitpersonen, die auch musikbegeistert sind und behinderte Menschen auf Events begleiten. Wir selbst haben dies noch nicht in Anspruch genommen, aber schon viel Positives darüber gehört. (Anm.: Porträt über “Inklusion Muss Laut Sein” folgt in #3 unserer Reihe MusInclusion)
Fühlt ihr Euch, aufgrund Eurer Einschränkung auf (Punk-) Konzerten manchmal unwohl? Spielt dabei auch euer Geschlecht eine Rolle?
Generell fühlen wir uns auf Punk-Konzerten sehr wohl und gut aufgehoben. Dort ist jedermann (und jede Frau) akzeptiert und integriert. Es bleibt aber natürlich nicht aus, dass wir manchmal wahrscheinlich mit mehr blauen Flecken nach Hause gehen als sehende Konzertbesucher, weil wir aufgrund unserer Blindheit nicht rechtzeitig reagieren können, wenn uns der Pogo erwischt. Aber das gehört einfach dazu.
Kennt ihr selbst inklusive Bands, bzw. habt schon einmal deren Konzerte besucht?
Ja, wenn das zählt: Wir kennen eine Band aus den USA, Far From Finished – die erste Punk-Band, die wir jemals live gesehen haben -, deren Sänger nur einen Arm hat.
Wie definiert ihr Barrierefreiheit in Bezug auf Konzerte, aber auch die Beschäftigung und Beschaffung von Musik ( Online Medien, Shops, Plattenläden…)? Gab es schon einmal die Situation, dass ihr ein Konzert oder Festival etc. nicht besuchen konntet, aufgrund unzureichender Ausstattung betreffend Barrierefreiheit?
Wir würden uns wünschen, dass in der Zukunft alle Venues irgendwann einmal taktile Bodenleitlinien haben, sodass wir uns in den Räumlichkeiten selbstständig zurechtfinden, und dass mehr Personal vorhanden ist, sodass einem gegebenenfalls eine Begleitperson zur Seite gestellt werden kann. Das haben wir bisher noch nirgendwo erlebt. Generell ist es eine tolle Sache, dass bei vielen Veranstaltungen die Begleitperson freien Eintritt erhält. Leider ist das aber vom Veranstalter abhängig und manche wissen nicht, wie sie die Situation handhaben sollen und sind überfordert.
Kennt ihr barrierefreie Homepages und wenn ja, wie können wir uns das vorstellen? Nutzt ihr diese regelmäßig? Was vermisst ihr in den digitalen Medien bzgl. Barrierefreiheit in Bezug auf Menschen mit Sehbehinderung?
Die meisten Online-Shops für Musik, die wir ausprobiert haben, sind grundlegend barrierefrei. Wir können uns also die meisten CDs und Platten ohne sehende Hilfe mithilfe unserer Laptops und einer angeschlossenen Braillezeile sowie einem Screenreader kaufen. Das dauert dann immer etwas länger als bei Sehenden, v. a. wenn man zum ersten Mal in einem Shop einkauft und den Aufbau der Webseite noch nicht kennt. Allerdings stoßen wir ab und zu auf eine unüberwindbare Barriere, nämlich das Captcha. Das können wir dann nur mit einer sehenden Person lösen. Wir persönlich kaufen oft bei Amazon oder BandCamp ein oder beziehen die CDs von der Band direkt, was am allerleichtesten ist, weil die Abwicklung dann immer ohne Shop und die Zahlung über PayPal erfolgt, das wir sehr gut bedienen können. Grundsätzlich sind für uns Bilder und Grafiken nicht lesbar, außer sie sind mit einem Alternativtext versehen. Auch Tabellen und grafische Oberflächen sind schwierig. Eine einfach gestaltete Webseite mit viel Text erleichtert uns das Surfen im Internet hingegen.
Gibt es etwas, was ihr gerne in diesem Zusammenhang mal loswerden würdet?
Wir finden es klasse, dass du die Rubrik „MusInclusion“ ins Leben gerufen hast. Zu diesem Thema haben wir noch nicht viel in Fanzines gelesen. So werden Konzertveranstalter und -besucher vielleicht mehr für die Belange von behinderten Menschen sensibilisiert.
VIELEN DANK FÜR EURE ZEIT & EURE OFFENHEIT!