Da ich in den vorangegangenen Interviews immer wieder auf Verunsicherung bezüglich der politisch korrekten Bezeichnung von Menschen mit Behinderungen gestoßen bin, möchte ich diese Ausgabe mit einer kurzen Erklärung meinerseits beginnen: Ich verwende in meinen Interviews vorrangig die Bezeichnung “Menschen mit Behinderung/-en”, alternativ auch “behinderte Menschen”, da ich selbst keine Euphemismen verwenden möchte. Ich teile die Meinung einiger Aktivisten, wie zum Beispiel Raul Krauthausen oder Luisa L’Audace, dass dadurch “(…) das Thema “Behinderung immer weiter tabuisiert wird (…) Es impliziert, dass es etwas Negatives ist, das nicht ausgesprochen werden darf.” (Quelle:Luisa L’Audace via Instagram). Als Mutter einer Tochter mit Behinderung, möchte ich genau dies versuchen zu verhindern. Natürlich ist für mich aber selbstverständlich, dass jeder Mensch mit Behinderung, auch meine Tochter, sobald sie es kann, selbst entscheiden soll, mit welcher Bezeichnung er/sie sich selbst am wohlsten fühlt. Und ebenso klar sollte sein, dass im Vordergrund steht, wie wir alle mit behinderten Menschen umgehen – die politisch korrekte Bezeichnung steht nicht automatisch für den respektvollen Umgang. Den setze ich, wenn ich für mich selbst spreche zumindest, voraus. Respektvolle Kommunikation ist dazu die Grundlage: Auf die Menschen zugehen, fragen, ins Gespräch kommen, sich aufklären lassen und somit Hemmungen abbauen – mit dieser Reihe möchte ich genau dazu anregen.
Im heutigen Interview spreche ich mit Jens, Dipl. Sozial-Pädagoge im Jugendhaus Mitte und dem dazugehörigen Club Zentral in Stuttgart. Der Club Zentral versteht sich als Raum für Konzerte und Kulturveranstaltungen, abseits der kommerziellen Gastronomie, und ist barrierefrei. Sollte bei Veranstaltungen eine Begleitperson benötigt werden, erhält diese dort freien Eintritt. Der Club Zentral ist Teil vom Jugendhaus Mitte, das sich unter anderem durch seine zahlreichen und im folgenden Interview noch näher ausgeführten Kooperationen den Grundsatz OFFEN FÜR ALLE! gegeben hat, der logischerweise auch für den Club gilt. Im Folgenden erfahrt ihr von Jens, wie das inklusive Konzept dort umgesetzt und gelebt wird, was er selbst unter Barrierefreiheit versteht, wie er für diese Themen sensibilisiert wurde und täglich neu dazulernt.
Lieber Jens, schön, dass Du Deine Erfahrungen für unsere Reihe “MusInclusion” mit uns teilst. Inwiefern betrifft Dich das Thema Inklusion (persönlich und in Bezug auf Deine Arbeit im Jugendhaus/Club Zentral?)
Persönlich betrifft es mich erstmal nicht, da ich selbst ja keine Einschränkungen habe. Aber für mich war mein Zivildienst eine sehr prägende Zeit, unter anderem für dieses Thema. Den habe ich in der Nikolauspflege im Internat für Blinde und Sehbehinderte auf einer Wohngruppe abgeleistet, in der überwiegend junge Menschen mit Mehrfachbehinderungen lebten. Das heißt, sie hatten zu ihrer Blindheit oder Sehbehinderung noch ein anderes Handicap. Da gab es dann zunächst einmal die Zivi-Lehrgänge mit klassischen “Übungen”, wie sich selbst einmal im Rollstuhl oder mit einer aufgesetzten Brille, die unterschiedliche Grade der Sehbehinderung simuliert, in der Stadt fortzubewegen. Und dann natürlich die konkrete Arbeit in der Einrichtung mit den meist etwa gleichaltrigen Menschen, die durch ihre Einschränkungen einfach erstmal in einer ganz anderen Lebenswirklichkeit waren. Konkrete Aufgabe war z.B. die Einkaufsbegleitung von Blinden oder sehbehinderten Menschen, teilweise dann noch im Rollstuhl sitzend. Und das hat mir sehr geholfen, die Aufmerksamkeit auf Barrierefreiheit im Alltag zu schulen. Mir wurde da schlagartig bewusst, dass Dinge, die für einen selbst eine absolute Selbstverständlichkeit sind, für diese Leute teilweise ein Riesenproblem darstellen. Diese Erfahrung hilft mir auch heute noch die Perspektive zu wechseln und besser zu verstehen, wie Menschen mit Behinderungen immer noch viel zu oft ausgeschlossen werden. Dieser persönliche Hintergrund zu dem Thema gab auch letztendlich den Anstoß für mein Sozialpädagogik Studium nach dem Zivildienst. Ich habe damals in der Nikolauspflege übrigens auch die Band– und Fußball–AG mit betreut, was echt eine tolle Erfahrung war!
Wie wird bei Euch Inklusion gelebt?
Also im Club Zentral gibt es zum Beispiel regelmäßig in Zusammenarbeit mit der Diakonie Stetten die Kennenlernparty, das ist eine Singlebörse für Menschen mit Behinderung mit Disco und Livemusik der inklusiven Band Die Dienstagsrocker. Außerdem gibt es einmal jährlich im Zusammenhang mit dem All Inclusion Festival abends im Club Zentral ein kostenloses Konzert für alle. Und im Jugendhaus Mitte gibt es durch etliche Kooperationen sehr viele regelmäßige Aktionen, wie zum Beispiel das Ferienprogramm mit der Diakonie Stetten, eine wöchentliche Kreativ-AG mit der Margarete-Steiff-Schule oder den Stammtisch von Machen-wir-was! (Freizeitangebote von Menschen mit und ohne Behinderung). Außerdem haben wir dort im Büro regelmäßig Praktikant*innen mit Sehbehinderung oder Blindheit aus der Nikolauspflege für ein einjähriges Praktikum im Zuge ihrer Ausbildung zum Kaufmann/Kauffrau. Zudem bieten wir der Nikolauspflege Praktika im Bereich Hauswirtschaft/Küchenhilfe an. All das ist für uns die Grundlage, um ein inklusives Verständnis zu bekommen. Bei der Vielzahl an verschiedenen Behinderungen ist es für uns immens wichtig, Rückmeldungen von den betroffenen Menschen zu erhalten, damit wir verstehen können, was für sie im Alltag wichtig ist.
Erzähl uns doch ein bisschen was zum Konzept des oben genannten All Inclusion Festivals!
Im Grunde ist es ganz einfach: Zusammen mit der Nikolauspflege und dem Projekt Dunkelbunt haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, mit dem Festival einen Rahmen zu schaffen, in dem Hemmschwellen und Berührungsängste abgebaut werden können, in dem junge Leute mit und ohne Handicap gemeinsam an den verschiedenen Sport-, Spiel-, Kreativ- und Musikangeboten teilnehmen können. Dazu gehört auch, dass es keinen Eintritt kostet. Da es im Sommer stattfindet, spielt sich dabei viel auf unserem Außengelände ab. Dafür wurde inzwischen sogar unter großem Aufwand eine natürliche Rampe geschaffen, die den unteren Teil des Außengeländes mit unserer Terrasse barrierefrei verbindet. Früher mussten wir dazu immer ne riesige Alu-Rampe ausleihen, die wir dann über eine Treppe gelegt haben, was ein ziemlicher Kraftakt war. Bei der Gelegenheit muss ich auch mal unserem Träger, der Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft danken, die uns bei solchen baulichen Anliegen nach Kräften unterstützt. Es gibt also immer etwas zu optimieren und das versuchen wir auch zu tun, sofern es irgendwie machbar ist.
Was verstehst Du selbst unter Barrierefreiheit? Ist der Club Zentral barrierefrei und wenn ja, was beinhaltet das?
Barrierefreiheit bedeutet für mich, dass man – egal mit welchen Einschränkungen man lebt – möglichst selbständig überall hinkommt und an allem teilhaben kann. Also für Rollstuhlfahrer ist der Club Zentral barrierefrei durch unsere breite, automatische Eingangstür und das Behinderten WC, außerdem ist alles ebenerdig. Das Jugendhaus verfügt außerdem inzwischen über eine Treppenraupe, so dass auch Rollstuhlfahrer alle Stockwerke erreichen können, denn leider haben wir keinen Aufzug im Haus. Wir bekommen im Jugendhaus Mitte und Club Zentral natürlich auch viel Rückmeldungen von unseren blinden und sehbehinderten Praktikanten, die wir dann in kleine Veränderungen, wie z.B. das Anbringen fluoreszierender Treppenstufen-Markierungen, einfließen lassen und lernen da auch nie aus.
Gibt es Menschen mit Behinderungen, die regelmäßig zu euren Konzerten kommen und wenn ja, hast Du das Gefühl sie sind zufrieden mit der vorhandenen Barrierefreiheit des Clubs?
Leider sind Konzerte gerade ja nur ne schöne Erinnerung an alte Zeiten… Aber doch, es gibt schon dementsprechende Konzertbesucher, die ich regelmäßig gesehen habe vor Corona. Und ich hatte eigentlich den Eindruck, dass die auch zufrieden waren. Hier möchte ich auch immer wieder Betroffene ermutigen: Bitte gebt uns unbedingt Bescheid, wenn für euch etwas nicht passt oder fehlt, denn eure Rückmeldung sind für uns extrem wichtig, damit wir Barrieren – und Hemmungen – weiter abbauen können.
Hat schon mal eine inklusive Band bei Euch gespielt? Kennst Du inklusive Bands aus dem Rock/Punk/Metal Bereich?
Ja, wie vorhin schon erwähnt die Die Dienstagsrocker bei der Kennenlernparty oder beim All Inclusion Festival die Band Fame oder das Duo The Sixteens . Bei den kommenden All Inclusion Festivals möchten wir dann immer mindestens eine inklusive Band beim Clubkonzert am Abend dabei haben, das hat bisher noch nicht jedes Mal geklappt. Und wenn Corona nicht dazwischen gefunkt hätte, dann könnte ich auch erzählen, dass ne ziemlich bekannte Band mit im Rolli sitzenden Musiker aus den USA bei uns gespielt hat. Aber leider kam die Pandemie schon vor Ankündigung des Konzerts und somit bleibt das leider geheim. Ich hoffe aber, dass die Tour irgendwann später noch nachgeholt wird und wir die Band dann zu uns lotsen können.
Womit denkst Du könnte es zu tun haben, dass in vielen Locations noch kein Konzept zur Barrierefreiheit vorhanden ist und somit Inklusion bei Konzerten für sie eher eine geringe bis keine Rolle spielt?
Ich denke hauptsächlich ist es eine gewisse Unwissenheit oder Unbedarftheit, die auch gar nicht „böse“ gemeint ist. Aber wenn man selbst oder im engen Familien- oder Freundeskreis keine entsprechenden Beispiele hat, dann bleibt man halt oft gedanklich irgendwie in diese eigenen, heilen Welt stecken. Wir als soziale Einrichtung sind da automatisch eher sensibilisiert. Und dann ist es natürlich auch ein finanzielles Thema. Ein kleinerer, kommerzieller Club hat natürlich auch erstmal andere Themen im Kopf, um zu “Überleben”, denn viele Maßnahmen zur Barrierefreiheit sind natürlich entsprechend kostspielig – umso wichtiger auch hier wieder die Rückmeldung an die Betreiber, wenn Betroffene entsprechende Hinweise geben können.
Denkst Du, dass es noch unausgeschöpfte Möglichkeiten gibt, was das Thema Inklusion oder Barrierefreiheit in Bezug auf die Musikszene gibt? Was hat sich in den letzten Jahren schon getan?
Eigentlich muss man die Frage eher andersherum stellen: Da gibt es nämlich noch sehr viel Potential. Barrierefreiheit ist letztendlich aufgrund der Vielzahl von verschiedensten Beeinträchtigungen nur eine Idealvorstellung, der man sich vielleicht annähern kann – bei einem Festival oder einer Konzert–Location ist das leider oft durch die vorhandenen baulichen Gegebenheiten nur relativ schwer zu erreichen. Wichtig ist aus meiner Sicht der Versuch, es so gut wie möglich hinzubekommen. Und in der derzeitigen Situation taucht dann zusätzlich als Problematik auf, dass durch Corona viele Locations vermutlich froh sein werden, wenn es sie nach all den Lockdowns überhaupt noch geben wird. Für die haben solche Themen dann natürlich keine Priorität. Aber es ist trotzdem in erster Linie mal wichtig, darauf aufmerksam zu machen. Deswegen finde ich die Idee von Dir mit dieser Reihe auch wirklich super, um das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen. Als Location kann man dann trotzdem auch schon recht einfach zeigen, dass zumindest ein Bewusstsein für die Thematik vorhanden ist. Und ich denke das kommt bei Betroffenen auf jeden Fall auch an und wird honoriert.
Danke Dir lieber Jens, für das interessante Interview!