Kennt ihr das, wenn ihr eure ganze Aufmerksamkeit auf eine Sache richtet – wenn ihr tief in diesem Moment steckt – und dann fühlt ihr so eine warme Welle durch euren Körper fließen? Bei mir ist das so, wenn ich Musik höre, die mein Innerstes anrührt. Und ich kann sagen, Palm Reader haben das mit ihrem neuen Album „Sleepless“ (VÖ 28. Mai 2021) bei mir geschafft.
Die fünf Jungs kommen aus Nottingham, England, spielen Post-Hardcore und haben sich 2011 gegründet. Vor 10 Jahren habe sie ihre erste Show in einer Location irgendwo in der Pampa in ihrer Heimat gespielt, die Platz für 270 Leute bot. Heute sind sie stolz darauf, als Support-Act für Glassjaw schon in der weltberühmten Brixton Academy in London gespielt zu haben. Verglichen werden Palm Reader zum Beispiel mit The Dillinger Escape Plan. Sie selbst geben auf dem Cover ihrer Platte Deftones, Thrice und Black Peaks als Referenzen an.
„Sleepless“ ist das vierte Album von Palm Reader und die Fünf sind an die Platte laut Pressetext mit großen Ambitionen rangegangen. Demnach wollen sie mit “Sleepless” nichts anderes als „den Gipfel der Metal-Szene erklimmen“. Sowieso klingt der ganze Text zum Album ziemlich selbstbewusst. Aber wenn man Großes erschaffen will, sollte man eben auch groß denken und das nach außen zeigen. Richtig so. Aber nun konkret zur Platte.
Der erste Song „Hold/Release“ enthält schon alles, was ich mir von einer wirklich guten Post-Hardcore-Band wünsche. Ich mag den Gitarrensound, mit dem der Song startet. Darunter legt sich ein treibender Bass. Sänger Josh Mckeown schreit uns gleich zu Beginn eine lebensphilosophische Frage entgegen: „Whose opinions determine the course of the life you lead?“ Dann der Refrain – und da hat mich die Band schon – Ich liebe einfach die Gesangsstimme von Josh und wie sie so großartig harmoniert mit den Gitarrenwänden, dem wummernden Bass, der das kraftvolle Fundament legt, so dass alles andere glänzen kann. Schon beim zweiten Hören habe ich die Melodie intus und empfinde Glücksgefühle. Im Text geht es um toxische Männlichkeit und das Problem, dass einige Männer ihre Gefühle unterdrücken und dadurch die Beziehungen zu anderen Menschen in die Brüche gehen. Sänger Josh hat damit in seinem Umfeld eigene Erfahrungen gesammelt und hat selbst Angst davor, in diese Falle zu tappen, sagt er. Ein so wichtiges Thema, das kaum genug Aufmerksamkeit bekommen kann. Schließlich ist die häufigste Todesursache von Männern unter 45 im Heimatland von Palm Reader der Selbstmord.
Für die Texte hat sich Josh ansonsten diesmal in andere Menschen hineinversetzt, um nicht nur um seinen eigenen Horizont zu kreisen, sondern auch andere Perspektiven abzubilden. „Willow“ zum Beispiel wird aus der Perspektive einer Mutter erzählt, die ihr Kind verloren hat. Die Weide steht hier symbolisch für den Verlust und gleichzeitig für Hoffnung und die Erinnerung an den geliebten Menschen. Der Ansatz, nachzuempfinden, wie es anderen Menschen in ihrer Situation geht, ist ein starkes Plädoyer für Mitgefühl, von dem unsere Gesellschaft der Band zufolge aktuell deutlich mehr gebrauchen kann.
Unbedingt erwähnenswert ist noch „A Bird And Its Feathers“, denn es ist das erste Liebeslied der Band. Normalerweise schreiben Palm Reader keine Songs über positive Gefühle. Aber das hier ist der Beweis, dass die Band wirklich etwas wagt und Neues kreiert. Der Song beginnt ganz sanft. Mit abgestoppten Gitarrenakkorden und geht dann schleppend und heftiger weiter. Josh setzt hier durchgängig seine melodiöse Stimme ein. In der Strophe blitzen unter anderem die Deftones durch. Pausen bringen Spannung rein. Ich liebe diesen intensiven Song und die edgy Stimmung, die er vermittelt. Am Ende sind ungewöhnlicherweise kurz Bläser zu hören.
Sowieso probieren sich Palm Reader auf „Sleepless“ mit Sounds aus. Sie verwenden neben den Bläsern auch Keyboards, Klavier, Synthesizer und legen Sounds über ihre Musik, die wie bei dem instrumentalen Stück „Islay“ geradezu cineastisch klingen. Gitarrist Andy Gillan sagt dazu: „Es ist nicht gesund für Bands, immer wieder den selben Song zu schreiben, denn wenn eine Band ihre Formel findet, kann man sie vergessen.“ Darum haben Palm Reader jahrelang herumexperimentiert, um nicht immer nur um das gleiche zu kreisen.
Auch unbedingt hörenswert sind „False Thirst“ (warmer Klaviersound, gigantischer Chorus) und „A Love That Tethers“ (Kontrast zwischen schleppendem Sound und zartem, hohem Gesang). Auf „Sleepless“ finden Post-Hardcore-Fans ganz sicher, was sie suchen, aber auch Fans anderer Genres kann ich diese Platte als Erweiterung ihres Horizonts ans Herz legen. Palm Reader haben echt Ambitionen. Und sie haben abgeliefert.
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