Oops he did it again! – so könnte man den nächsten fantastischen Sampler “Swedish Radar Control” aus der westfälischen Plattenschmiede Kernkrach überschreiben. Jörg Steinmeyer – Dr. Kernkrach wie ihn seine Jünger nennen – hat sich zum Jahresausklang alle Mühe gegeben uns mit dem Produkt Hertz077 den Herbst zu versüßen. Dazu passt auch der wunderschöne Untertitel, den jeder Köttbullar-Gourmet bestimmt leicht versteht: Musik aus den dunkelsten Wäldern Schwedens!
“12 rare Demosongs aus dem schwedischen Untergrund, 12x Wahnsinn! Analoge Maschinen treffen auf tanzwütige Roboter – das Universum wackelt und zappelt! Vielen Dank allen Beteiligten für dieses wunderbare Produkt! Hier schließt sich wieder einmal der internationale Freundeskreis.”, so der Meister selbst. Den Ausschlag für diesen Sampler gab ein sommerliches Festival in Schweden – das letztjährige Kalabalik på Tyrolen Festival – in dessen Verlauf man “beim geselligen Beisammensein und Frönen der Livemusik und ein paar Bierchen, beschloss, in den jeweiligen Archiven der Bands zu stöbern, ob noch ein paar Demo-Songs übrig sind”, berichtet Jörg. Und so viel schon mal vorab, es ist so ein Kracher von einem tanzbaren Elektro-Album geworden.
Kinder Aus Asbest – Slipping Away
Der aus Stockholm stammende Erik Söderberg steckt hinter Kinder aus Asbest, die schon eine Anzahl an eigenen Veröffentlichungen haben. Die DIY-Releases waren meist in kleinen Auflagen. Ihre DNA haben die Kinder aus Asbest eindeutig, aus den 80s mit ihrem minimal und eher kalten Synth Pop, der manchmal durch einen Tupfer EBM, Goth oder Industrial veredelt wird. „Slipping Away“ ist einer meiner Favoriten auf diesem Album, weil der Beat einfach unbarmherzig schnell und hektisch aus den Boxen hämmert, während eine kleine Synthie-Melodie fast mantra-artig wiederholt wird. Dazu kommen gedämpfte Lyrics im Hintergrund und eine überlagernde sanfte Melodie. Ein paar Passagen des Songs erinnern ein wenig an „Sleeper in Metropolis“ von Anne Clark.
Wobbler – Frekvenkoj
Danach kommen Wobbler und kredenzen uns ihre Idee tanzbarer Elektro-Musik. Wobbler haben in „Frekvenkoj“ eine Kostprobe ihres typischen Sounds auf dem Sampler verewigt. Wobbler schwanken mit ihrem Stil zwischen Licht und Schatten, zwischen Feiern und Verzweiflung. In „Frekvenkoj“ treibt ein Uptempo-Beat eine repetitive Melodie vor sich her, zu der eine Stimme eine Parole wiederholt. Auch dieser Track ist wie für den Dancefloor gemacht.
Friseur – Lamerouillée
Auch Friseur hauen mit seinem reduzierten Minimal-Sound in die gleiche Kerbe. „Lamerouillée“ hat französische Lyrics, die im Sprechgesang vorgetragen werden. Der Beat ist auch hier der Energieträger und liefert einen stumpfen Rhythmus, über den die Synthies nach bester Hi-NRG-Art eine Melodie legen. Ein acid-mässiger Bass rundet „Lost“ zu einem wahren Dancefloor-Filler ab. Bei dem Duo handelt es sich um die beiden Cousins Serge und Hercule und Serge war es, der im Haus seiner Mutter 2019 ein paar Boxen mit Tapes der Band fand. Was für eine Story!
Nattens Jazz – Svarta Tarar
Natten Jazz ist musikalisch im letzten Jahrtausend stehen geblieben. Er haut aus seinen Maschinen eine 1A-Atari-Melodie mit Endlos-Charakter raus, die einfach herrlich nervös und zappelig den und die Hörer:in nicht stillstehen lassen. “Sparta Tårar” bedeutet schwarze Tränen – es sollte sich bei dem geilen Sound allerdings um Freudentränen handeln, die vom Künstler aus West-Stockholm zum Besten gegeben werden.
Majestoluxe – Damned If You Do (Hypoxia Version)
Die ersten Töne von „Damned if you do“ erinnern mich stark an „Go“ von den Tones on Tail“. Danach findet Majestoluxe aber seinen eigenen Weg und haut einen EBM-Diamanten raus, der die Boxen erschüttern läßt. Bass-Linie und Beat kloppen Steine weich, die Melodie könnte aus den Folterkammern von Guantanamo stammen. Trotzdem schiebt dich „Damned if you do“ direkt auf den Dancefloor. Argh!
Unisonlab – Be right back reboot
Das Ende von Seite A bilden Kraftwerk, sorry Unisonlab mit „Be right back reboot“, der stark an Kraftwerks „Transeuropa-Express“ erinnert. Neben einigen Samples, klingt sogar die Stimme nach den Düsseldorfer Elektro-Pionieren. Trotzdem schafft es Unisonlab eine wunderbare Tanznummer für Roboter im alten Gewand, neu erklingen zu lassen. Ganz großes Tennis und eine tiefe Verneigung vor einer Band, ohne die es diesen Sampler vermutlich nicht gegeben hätte.
A>M – Post Modern Irony (KInder Aus Asbest Dead Soul Remix)
In „Post Modern Irony“ klingen die ersten Töne nach den frühen Singles der Sisters of Mercy. Herrlich holpriger Beat aus der Maschine und dazu die wabernden Klänge aus den analogen Synthies. Später kommt dann noch eine feine Melodie und der leicht verhallte Sprachgesang des Sängers dazu. A>M hat schon ein paar Releases auf der Habenseite und zeigt mit „Post Modern Irony“ wofür sein elektronisches Herz schlägt. Hier kommt aus dem New Wave Bereich, was Rang und Namen hat: die frühen Human League, Tubeway Army oder Fad Gadget. A>M macht herrlichen Synthie-Pop mit einer Vorliebe für Drum-Maschinen.
Kinder Aus Asbest – Dance Angst
Die Kinder aus Asbest erinnern mich unter anderem an The MegaMen, Art Fact (übrigens auch aus Schweden), Robert Barlow oder Fotostat. Allesamt 80s Künstler und Bands, die relativ schnell wieder aus dem Rampenlicht verschwanden, aber vielleicht als Blaupausen für die Kinder aus Asbest dienen. In „Dance Angst“ macht der Beat richtig Alarm und jagt die Synthies nur so vor sich her. Der leicht verhallte Sprachgesang von Erik, der immer wieder „Dance Angst“ wiederholt, machen den Song zu einem Killer.
Epikuros Apati – Lost
Danach wird es richtig warm in der Hütte. Epikuros Apati hämmert einen Beat raus, der kein Morgen kennt. Mit den Synthies erschafft er einen melodischen Sound, der durch die wummernde Bässe und eingespielte Synthie-Effekte wirklich stark an die gute alte EBM-Zeit erinnert. „Lost“ weckt einfach durch diesen analogen Sound direkt Erinnerungen an Neon Judgement oder andere feine Bands des Genres.
Kord – Sensitive Sensation
Dann kommen Kord und drücken dem Hörer:in eine Atari-Melodie unter die Hirnrinde, die einem den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf geht. Dazu regt der Beat das Tanzbein an. Die herrlich naive Synthie-Melodie läßt fast den Italo-Pop der 80er wieder auferstehen. Dazu diese fröhliche Stimme der Sängerin, die fein nach NDW klingt. Dieser Song dürfte nie enden, weiter immer weiter. Ein echte aurale Droge. Bitte hör nicht auf!
Savj. – The Freaks
Die Balletschuhe dampfen schon und da kommt Savj. und lädt noch einmal richtig durch. Der Bursche hat definitiv analoge Blut in seine Elektro-Adern. Wenn der nicht DAF mit der Muttermilch eingesogen hat, dann fress ich einen Besen. Als Savj. läßt er die Synthies im Stechschritt zum militärischen dumpfen Bass-Beat marschieren. So tauschen wir die Ballettschuhe gegen Springerstiefel und bleiben frei nach Front 242: im Rhythmus. Dazu seine verfremdete Stimme, deren Lyrics nur darauf lauern dich anzuspringen wie ein im Dunkeln lauerndes Raubtier. Gänsehaut pur!
Ståltråd – Instabil
Es folgt mit „Instabil“ ein fröhlicher Popsong, der mit uns über die Blumenwiese hüpft. Ståltråd haben es auf unsere Tanzbeine abgesehen und bewegen sich musikalisch sehr nah an den frühen Depeche Mode, als Vince Clarke noch als Mitautor für das Debütalbum mitverantwortlich war. So sind die Synthies eher fröhlich, der Beat ist angenehm und eine sanfte Stimme beschallt uns zu zuckersüßen Klängen. Ein würdiges Ende, das noch im Kopg nachklingt…
Ich kann diesen Sampler euch allen ans Herz legen, die ihr auf diesen Art der elektronischen Musik steht, Dr. Kernkrach in seiner Mission unterstützen wollt, oder, was am schönsten wäre, ihr einfach durch das Review neugierig geworden seid. Dieser wirklich mit Liebe und Hingabe zusammengestellte Sampler mit diesen einzigartigen Verpackung (vom Artwork mein Album in 2022) ist für einen fairen Preis beim Meister selbst die Platte, entweder online oder in seinem Laden in Münster, Hansaring 5 zu erwerben.
Das Cover ist handgemacht und zeigt den Umriss von Schweden in feiner silberner Linie mit einem angedeuteten Radar-Sektor, der je nach Variante in rot oder gelb kommt. Als Besonderheit ist der farbige Sektor auf das eigentliche Cover aufgebracht, so dass sich ein haptischer Effekt erfühlen lässt. Das Back-Cover enthält die Trackliste und ein schön in Radar-Grün (Fachwort: Silk-Green) eingefärbtes Bild eines Hochspannung-Gefahren-Hinweis-Schild an einem mit Schilf bewachsenen Gewässerufer.
“Swedish Radar Control” ist auf 350 Stück limitiert. Die beiden in schwarzes Vinyl geprägten Rillen bringen 180 Gramm auf die Waage und haben noch eine informative, mehrseitige Broschüre dabei, in der die beteiligten Bands gelistet sind und ein paar Zeilen veröffentlicht haben.
Noch ein Tipp in eigener Sache. Wenn alles gut läuft und das Review rechtzeitig veröffentlicht wird… hier ein Tipp, wenn ihr mal Dr. Kernkrach Live erleben wollt. Das könnt ihr gerne in der Leserille in Sundern, Hammersreihe 3. Dort werde ich den Jörg anlässlich des 20. Jubiläums des Kernkrach Universums persönlich bei einem speziellen Kernkrach-Themenabend zu seinen zahlreichen Aktivitäten interviewen und Jörg wird einiges aus 20 Jahren Kernkrach Universum auflegen. Wenn das kein Grund ist sich auf den Weg zu machen.
Save the date 19.11.2022 ab etwa 19.30 Uhr.
Anmerkung des Autors: Vielen Dank an meine lieben Kollegen:innen aus der Vinyl-Keks-Redaktion, dass ihr es bis jetzt mit mir ausgehalten habt. Dies ist mein 150. Beitrag – dafür danken. Ich werde es gebührend feiern.