Gibt es das Unbeschreibliche oder das so Schräge, das einfach nicht geht?
Spätestens bei den Fragen werde ich wach und die Signalfäden meines Spinnennetzes fangen an zu vibrieren. Ich bin immer auf der Suche nach dem Neuen, Unbekannten oder noch nie Gehörten. Schlaft weiter, ihr süßen Seelen – ich liebe diese Grenzgänger*innen, die weiße Flecken auf der Landkarte füllen, neue Genres finden und weiterentwickeln. Und – HEUREKA! – genauso etwas ist mir vor die Füße gefallen: HIRAKI – “Stumbling through the Walls”! Kommt etwas bieder daher, was Cover und Verpackung angeht, ist aber schon mal aus transparentem Vinyl (also nicht gewöhnlich) und hat es faustdick hinter den Ohren!
HIRAKI sind ein Trio, stammen aus Aarhus (Dänemark) und haben bereits zwei Veröffentlichungen aus 2017 und 2019 am Start, beide in Eigenregie und nicht auf einem Label. Somit ist “Stumbling Through The Walls” das erste Album auf einem Label bzw. mehreren Labels. Das Clear-Vinyl hat acht Tracks und kommt auf 32 Minuten Spiellänge. Soweit die hard facts.
Der erste knapp 120 Sekunden dauernde Track “Common Fear” stellt die ersten Hörer*innen schon auf eine harte Probe. Loopende Drums oder entsprechende Geräusche sind neben Synthie-Collagen und ausbrechenden geräuschvollen Saiteninstrumenten der Klangteppich für die Schreie des Sängers. Das Konzept bleibt über Albumlänge bestehen. HIRAKI haben ein extrem gutes Gefühl für strukturierte Spannungen, die sie in den teilweise überraschenden Breaks der Songs aufbauen, nur um die langsamen und beruhigten Passagen erneut mit doppelter Geschwindigkeit und Lautstärke wieder zu überrollen.
Vielen Hörer*innen werden diese abrupten Wechsel von Tempo und Instrumentierung als Dissonanzen vorkommen, aber das Gegenteil ist der Fall. Es sind adäquate Stilmittel, um den Songs diese komplexe Rhythmik und diese zerrissene, verzweifelte Dramatik zu verleihen. Das HIRAKI textlich nicht über die Blumenwiese singen, kann man sich vielleicht denken. Im Großen und Ganzen sind es die düsteren, Angst machenden Themen, die angesprochen werden. Die Vocals werden den Hörer*innen als eine ständige Anklage wütend bis irre entgegen gespien. Eine Post-Metal-artige Verzweifelung macht sich immer wieder breit und ist genauso gewollt.
Bei “Proto Skin” hört man fast deutliche, klare Harmonien. Hier werden einige Hörer*innen dankbar eine Pause einlegen wollen. Mein Lieblingssong “New Standards” bedient sich einer Gast-Vokalistin, die wie einst Lydia Lunch dem Song mit ihren spoken words eine fast greifbare, körperliche Spannung verleiht. Hier hält sich die “Fraktion Trümmer-Truppe” bis kurz vor dem Ende zurück. Ein wirklich dämonischer, düsterer Song, der auch in der Länge absolut den Raum bekommt, denn er für diesen Spannungsverlauf benötigt. Er endet mit dem Flüstern der Chanteuse und einem ausklingenden, leisen Beat.
Die B-Seite beginnt mit “Blossom Cuts”, auf dem ein Gitarren-Solo zu hören ist. “Mirror Stalker” schleppt sich mit langsamer Metal-Attitüde durch den Song, der mit diesem zurückgenommenen Tempo auch wieder eine enorme Spannung aufbaut. Steigerung gefällig? Es folgt die akustische Folter “Peach Lung”, wo den Hörer*innen gnadenlos die knallharten Loops eins zu eins ins Hirn gestempelt werden. Herrlich, wie die Neubauten auf Exctasy kurz vor dem Sprung in den Hyperraum. Der letzte Song “The Alarmist” bretzelt den Hörer*innen dann mit flirrender Hochspannung und disruptiven Tempoverlauf die restlichen Synapsen von der Festplatte. Mission completed.
HIRAKI sind ohne Frage musikalische Grenzgänger und Genre-Wanderer. Wo viele Hörer*innen eine physische und psychische Belastungsprobe empfinden, finden andere auf diesen Pfaden, fern der Normalität, ihre Befriedigung und Unterhaltung. Was die drei Dänen als Hardcoreindustrialpostmetalnoiserock zusammensetzen, sucht Seinesgleichen. Hier werden Fragmente und Kleinsteile freudig entdeckt und sehr kreativ zu Neuem zusammen geschraubt, geschweißt, genietet oder gehämmert. So entstehen wirklich unbeschreibliche, interessante und neue Dinge im Kosmos von HIRAKI. Und es macht Spaß, sowohl diese winzigen, versteckten Details, als auch das Ganze in seiner depressiven und bi-polaren Schönheit zu betrachten.
Empfehlen kann ich das Album nur der offenen, neugierigen Hörerschaft. Der Rest bleibt bitte beim Altbewährten und Bekannten. Aber, alle Explorer*innen – mir nach, hier gibt es das Album!