Oh la la! Die frischen Franzosen aus Marseille, der wunderschönen Hafen-Metropole am Mittelmeer. Wenn man einer dieser etwa drei Millionen Bewohner ist, würde man sich normalerweise an der exquisiten Lage der Stadt, dem Klima, der mediterranen, französischen Küche und einem gewissen Stolz erfreuen. Nur Olivier „Escobar“ Gasoil von Les Hatepinks hat richtig einen an der Waffel. Soll heißen, statt sich französischem Pop oder Dance Floor zu widmen, ist er „sauerkrank“ – was gleichbedeutend ist mit einer Passion für die deutsche Sprache, frühesten deutschen Punk und – Achtung! – der neuen deutschen Welle. Und das in Marseille, einer Stadt, die im zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besetzung gelitten hat. Zu dem scheint Monsieur Gasoil eine sehr spezielle Art von Humor zu pflegen, was ein Blick auf das Cover und das Innensleeve beweisen. Besonders der Stadtplan von Innsmouth(?) ist Humor pur. Innsmouth ist eine fiktive Stadt aus den Erzählungen von H. P. Lovecraft und seinem Cthulhu-Mythos. Auf dem Stadtplan findet man so bekannte Lokalitäten wie das „Asile psychiatrique Zinedine Zidane“, die „Statue de Karl-Heinz Förster“ oder das „Comptoir de la Cocaiine“. Ich bleib bei meiner Waffel-Theorie.
Seine musikalische Gefolgschaft besteht aus Huggie von Pinkbird, seines Zeichens zuständig für Synthie, Gitarre und Background, Colonel Nass le Pink ist Bassist und Background während Olivier Gasoil Vokalist der Kapelle ist. Aufgenommen wurde das Album von April bis Juni 2020 im Studio Bunker 19 (wird im Song „Papa’s in the Bunker“ erwähnt) und im September im Studio du Cimetière gemischt. Die Les Hatepinks wurden 2002 oder 2003 in Marseille gegründet und gaben 2004 ihr Debut. Auch ihr zweites Werk erschien schon 2004. Der Plan war, sich nach dem dritten Album zu trennen. Tatsächlich passierte der Bruch dann schon vorher, nämlich 2005. Man hatte da erst zwei Alben auf der Haben-Seite. Trotzdem gab es weitere Aktivitäten und Veröffentlichungen bis hin zum „offiziellen“ Split der Band 2009. Somit sind die vorliegenden Songs die aktuellen Releases der Band nach über zehn Jahren.
„Ich bin sauer, ich bin krank. Ich darf leben, aber nicht zu lang“ Mit diesem Slogan eröffnen Les Hatepinks das Album. Das ist NDW pur und macht extrem viel Spaß. tempomäßig haut „Dernier Kebap“ in die gleiche Kerbe mit schöner Bass-Linie und spacige Synthies machen den Song zu einem typischen Wave-Song der 80er. Der folgende Track „How can Punk be dead when I’m still alive?“ wird in Stimmlage von John Lydon vorgetragen und erinnert auch musikalisch an die fantastischen Public Image Ltd. Dann rauscht mit pumpendem Bass und spooky Synthie-Teppich der Geisterzug, der „Specter Train“, an uns vorbei. Mit „Marseille’s Streets of Hate“ kommt die sarkastische Hymne an die Heimatstadt. Die Beschreibung der Missstände wird deutlichst angesprochen und ein sirenenartiges Synthiespiel soll wahrscheinlich die Polizeisirene der verwahrlosten Straßen der Stadt musikalisch darstellen. Ein wirklich geiler Song. Dann geht mein Herz wieder bei Track 7 auf. „Papa’s in the Bunker“ – Bunker 19, man erinnere sich an das Studio. Hier höre ich Gitarren-Riffs, die mich an bessere Zeiten des Charles de Goal erinnern. Einfach herrlich! Ob Vattern den Bunker verläßt, bleibt offen. Aber die Partytruppe ist schon weiter und schmeißt mit „Vichy Bubble Gum“ ein extrem authentisches New Wave Stück aus dem Ärmel, dessen Synthiespiel bei der Songeröffnung an „Berlin“ von Ideal erinnert. Weiter geht’s im Stakkato-Rhythmus … bis hin zu meinem Favoriten „Zucker und Milch“ mit dem Minimalismus und Humor von Trio. Die sich wiederholende Textzeile „Kalte Sonne, kaltes Licht“ hat schon was Poetisches und würde jedem NDW-Song Ehre bereiten. Dazu der Huhu-Background-Chor, der dem Song das poppige Gerüst gibt und in Ohrwurm-Nähe kommt. Ein Song für echte Minimalisten-Gourmets. Wie im französischen Film ereilt uns am Schluß das dramatische Ende „La France je m‘ en Branle“! Die Band bittet zum endgültigen Abgesang mit der Zeile: „Frankreich muß sterben, damit wir leben können!“ Wenn das die Alternativen sind, habe ich mich längst entschieden – Macron ist es nicht!
Das Album „Sauerkrank / Opupo 4“ von Les Hatepinks ist ein bunter, multikultureller Kindergeburtstag, an dem sich das Geburtstagskind selbst das größte Geschenk macht – das Album. In sympathischer, kindlich naiver Art und Gesang in drei Sprachen, schaukelt man sich durch die Genres: Post-Punk, Wave, New Wave und NDW. Musikalische Geschenke gibt es von Wire, The Ramones, The Dickies, P.I.L. und den Sex Pistols. Das 12 Songs umfassende Werk läuft knapp über zwanzig Minuten. Jeder Song ein kleiner Zynismus, verpackt als pastellfarbene Praline. Den Humor vom Bandleader muss man mögen. Aber wenn das gewährleistet ist, dann hat man mit dem Album richtig Spaß – frei nach NDW Markus: „Ich will Spaß“. Ich habe diese Band mittlerweile ins Herz geschlossen und feiere das Album in Hot Rotation. Wollt ihr auch Spaß? Dann hier bestellen.
Und keine Angst!
Der tut nichts!
Olivier “Escobar” Gasoil will nur spielen!