Modern English – the Prototype of Post-Punk
Modern English produzieren 1982 ihr zweites Album “After the Snow” mit Hugh Jones (The Sound, Echo & the Bunnymen) und definieren ihre musikalische DNA: es ist diese charakteristische Atmosphäre, die Modern English von allen abhebt und sich in spitzen Gitarren und schimmernde Keyboardklängen manifestiert. Das Kultalbum bringt mit “Life in the Gladhouse” eine Top40-Hit und den New Wave-Klassiker “I melt with You“, der es in den Vereinigten Staaten bis in Billboard Hot Charts schaffte.
“Auch, wenn es heute Post-Punk genannt wird, hatte es damals noch keinen Namen”, sagt Sänger Robbie Grey über diese Zeit. “Aber das war eine der wichtigsten Zeiten in der Musik, nach dem Punkrock, als alle Bands in England gelangweilt waren und anfingen, mit Effekten zu spielen. Die Keyboards waren alle laut und die Gitarristen benutzen eine Menge Pedale. Keiner war besonders musikalisch, was die Musikalität anging, also waren wir mehr am Sound interessiert. Das ist es, was man von Joy Division, The Core, Gang of Four, Bauhaus und uns hat – wer auch immer das war. Es ging mehr um Texturen, als um Songwriting”.
Modern English sind Kinder der Post-Punk-Bewegung der späten 1970. Das erste Konzert fand zusammen mit Siouxsie and the Banshees und Adam and the Ants statt. Ein Demotape ging damals an einige der Plattenfirmen. Den Zuschlag erhielten sie bei Beggars Banquet und Modern English wurde eine der ersten Bands, die beim legendären Label 4AD (Modern English halten Position sechs der ewigen Releases-Liste des Labels) unter Vertrag genommen wurden.
“Mesh & Lace”, das Debüt aus 1981 wurde ein Meilenstein des Post-Punk und eine Blaupause für die nachfolgenden Bands und Künstler. Mit Bands wie Joy Division, Wire und (noch heute aktiven) The Chameleons schufen Modern English diese spezielle, englische Düsternis aus schabenden Gitarre, sehnsüchtigen Vocals und dunklen Klangeffekten. Nicht zuletzt deswegen erregten Modern English die Aufmerksamkeit des berühmten BBC-DJ John Peel, der die Band zweimal in seiner Sendung vorstellte.
Modern English – Track by Track
Besser als mit “Long in the Tooth” kannst du kein Album beginnen. Ein Sound wie aus dem CBGBs verbindet die surreale Lyrik über das Älterwerden mit einem pulsierenden Beat. Der Volume-Regler geht direkt ein Stufen höher. Darüber hinaus weisen Zeilen wie “It’s taken a lifetime / I’m long in the tooth” und “I know something that you don’t know” auf das untrügliche Selbstbewusstsein und den speziellen Humor von Modern English hin, der sich durch das gesamte Album zieht. Sie wissen, wo sie stehen, Jahre nach ihrer Gründung 1979, und sie sind glücklich damit.
In den aktuellen Zeiten, sollte man “Not my Leader” in Dauerschleife den inkompetenten politischen Führern vorspielen. Modern English sind wirklich eine politische Band, aber in “Not my Leader” werden die Politiker ordentlich aufs Korn genommen. “New listen to me, You are mit my Leader” heißt es am Ende. Recht so.
“Not Fake” ist ein Ear-Catcher. Die wechselnde Laut-Leise-Dynamik des Songs wird geschickt benutzt. Die Keyboards von Stephen Walker treiben den Song nach vorne und ziehen den Hörer in seinen Bann. Dazu kommt der typische Gesangstil von Sänger Grey, fertig ist die Kirsche auf der Modern English-Torte.
Mit “Exploding” geht es in die Tiefen des Post-Punk: ein dissonantes Gitarren-Geflirre eröffnet den Song, bevor Michael Conroy mit einer einer bedrohlichen Bass-Linie den Goth-Sound der späten 1980 in den Raum stellt. Die psychedelische Atmosphäre wird durch Halluzinogene Zupfgeräusche der Geige verstärkt, während der Text über die Angst vor dem Tod den Gegenpol zum hypnotischen Sound und der strukturierten Gitarre von Gary McDowell bilden.
Mit dem rätselhaftesten Song des Album “Plastic” endet die erste Seite. Der völlig surreale Song startet mit einem Keyboardsound, macht aber durch die ständige Wiederholung des Wortes Plastik schnell klar, dass es hier um ein umweltpolitisches Statement geht. Die Musik ist dröhnend von hypnotischer Essenz mit gezupfter Bass.Linie, einer überdrehten Verzerrung der Gitarren und vermittelt ein dem Hörer die Botschaft, dass es ein Ende mit den Plastikprodukten haben muss.
“Crazy Lovers” ist ein Wolf im Schafspelz: man spielt mit den harmonischen Synthie-Klängen auf die frühen Jahre der Band an – zitiert sich quasi selbst – es ist aber das zeitgemäße aktuelle Modern English. Die ausdrucksstarke Stimme des Frontmann trägt den Song und schafft den schwierigen Spagat zwischen Seriosität und Komik. Ein paar Taschenspielertricks wie telefonähnliche Effekte, Hypno-Beat und eingängige Gitarren-Links dübeln “Crazy Covers” direkt im präfrontalen Kortex fest.
Mit “I know your Soul” nimmt die Band erst im zweiten Teil der Vorstellung den Fuß vom Gas. Definitiv ist “i know your Soul” die Ruhe-Oase von “1 2 3 4”. Die intime Introspektivität erwacht durch die gedrosselte Geschwindigkeit der melodischen Bassläufe von Michael Convoy, die direkt aus der Post-Punk-Werkzeugkiste der frühen Band stammen könnten. Der beruhigende Bariton und der emotionale Synthie-Teppich gesellen sich zu einer schimmernden Gitarre und lassen den Song auf einen ergreifenden Höhepunkt zu laufen.
Mit den drei letzten Songs, wird das große Finale von “1 2 3 4” eingeläutet. Mit “Genius” vernähen Modern English gleich mehrere Genres: die bekiffte Essenz des Wüstenrocks, der verhuschte Geist des Psychedelischen sowie die rotzige Haltung des Post-Punk-Sprechgesangs. Chapeau! Chapeau! Das muss man gehört haben, wie weit der kreative Geist der Band funktioniert. Unbedingt auf die letzten sechzig Sekunden des Songs achten. Das ist ganz großes Kino Leute! Modern English sind in ihrem eigenen Orbit.
Sollte ein Beweis für das Talent der Band für Goth-Rock bedürfen, hier ist er. Mit “Out to Lunch” wird es düster. Sehr düster. Die bösen Bewegungen des Bass und die atmosphärische Arbeit der Gitarre pendeln zwischen den beiden Songteilen. Eine starke, eingängige Melodie im Refrain machen den Song zu einem Gothic Dream par excellence.
Mit “Voices” findet “1 2 3 4” seinen Höhepunkt: die Gesangsdarbietung ist formidabel und über die gesamte Song-Länge eindrucksvoll. Während die verzögerten Gitarrenbögen über den Himmel huschen, ziehen die traumhaften Akzente des Drummers den Hörer in eine surreale Zwischenwelt der eigenen Gedanken. Alles an dem Song ist zum Hinknien episch, glorreich und für die Ewigkeit.
Modern English – Hüter des Heiligen Grals
Es gibt einen Grund, warum Modern English es geschafft haben, so vielen verschiedenen Zeitströmungen auszuweichen und eine der besten Kultbands zu bleiben, die Großbritannien hervorgebracht hat: die Verschmelzung von Talent und kreativer Vision. Da sie sich nicht scheuen, in neue künstlerische Bereiche vorzudringen und gleichzeitig Spaß an ihrem Handwerk zu haben, konnte die Gruppe immer weitermachen. Wie es sich für Punk gehört, hat die generelle Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung der Leute ein Werk geschaffen, das so unbeständig ist wie nur irgend möglich.
“1 2 3 4” ihr neuntes Studioalbum ist es ein musikalisch breit gefächertes, aber raffiniertes Album, das von Gothic-Sounds bis hin zu traumhaften Balladen reicht, wobei die Texte alles von direkten politischen Botschaften bis hin zu surrealer Komik umfasst. Produziert von Mario J. McNulty (David Bowie, Lou Reed, Nine Inch Nails), abgemischt von Cenzo Townsend und gemastert in der Abbey Road, bewahrt “1 2 3 4” den Geist dieser frühen Postpunk-Tage und ist klanglich und dynamisch ein hervorragendes Beispiel für die funktionierende musikalische DNA von Modern English.
Unbedingte Hörempfehlung für alle Fans der Band und guter Musik. Das Album erscheint im Februar und ist in jedem gutsortierten Plattenladen oder Versand erhältlich. Selbstverständlich auch über die bandeigene Bandcamp-Seite.
Es wird einige Hörer*innen geben, die am Ende diese Platte wieder rausholen und auf die Best-of-Year-Liste setzen werden. Mein Wort drauf.
Lagartija Nick
Tipp: Im April sind Modern English auf Deutschland-Tour, unter anderem in folgenden Locations:
11.04. Dortmund, Musiktheater Piano
12.4. Frankfurt, Batschkapp
13.4. Berlin, Huxleys
14.4. Oberhausen, Kulttempel
“Was soll das sein? Klingt irgendwie bekannt! Modern English? Nie gehört!”
Nachbar von Lagartija Nick zum lauten Abhören der Platte
Vinyl ist für mich nicht nur Musik, sondern ein Erlebnis. Die von mir beschriebenen Alben, habe ich alle ausgepackt, angeschaut und angehört. Gerne auch mehr als ein Mal. Bei den Reviews mache ich mir immer ein eigenes Bild durch entsprechende Recherche und das konzentrierte Anhören. Das ist meine Art den Künstlern entsprechende Wertschätzung für ihre Kreativität und Kunst entgegenzubringen.
So kann es vorkommen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens, die Platten in seltenen Fällen vergriffen sind.
Dazu gibt es für mich keine Alternative: über Platten schreiben, in dem man die Pressetexte abschreibt ohne die Platte in den eigenen Händen gehalten zu haben, macht für mich keinen Sinn. Danke für euer Verständnis. Lagartija Nick.