Länger nichts passiert hier bei „
Musik trifft Literatur„. Das heißt aber überhaupt nicht, dass nicht weiter gelesen wurde, im Gegenteil, es wurde sehr viel gelesen, aber das meiste passte hier in diesen Kontext nicht rein. Und da wir hier nicht einfach Kontent füllen wollen, ohne einen persönlichen Bezug dazu zu haben, gibt es halt schon mal Pausen. Das ist das Gute am
Vinyl-Keks, wir machen hier Sachen, auf die wir Bock haben und nicht weil wir es müssen.
Bock hatte ich aber auf jeden Fall auf das Interview mit
Annika Büsing, die mich mit ihrem Debüt Roman
Nordstadt überraschte und begeisterte. Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte auf nur 120 Seiten. Die beiden Protagonist*innen Nene und Boris sind alles andere als gewöhnlich, die Wut auf die Welt, ihre physischen und psychischen Wunden dominieren das Geschehen, können aber nicht verhindern, dass die beiden ihre Liebe zueinander entdecken. Wunderbar geschrieben mit einer gehörigen Portion lakonischem Humor und mit vielen zitierfähigen Aussagen gespickt, die zum Nachdenken anregen.
Warum die Autorin hier in die Reihe sehr gut reinpasst, erfahrt ihr direkt am Anfang des Interviews.
Viel Freude damit.
Im Klappentext deines Romans „Nordstadt“ bin ich auf die Formulierung in deiner Kurzbiografie aufmerksam geworden:“… mit einer ausgeprägten Vorliebe für Punkrock…“
Nun ist der Begriff Punkrock weit gefächert und auch die Szene keine homogene, vor allem nicht im Ruhrgebiet wo du aufgewachsen bist. Erzähl doch mal: Wann und wie kamst du mit Punkrock in Verbindung?
Ooohaaa, das ist in der Tat eine lange Geschichte. Ich würde sagen, ich saß bei einer älteren Freundin in der Küche und habe eine Menge Dinge gelernt, von der ich damals noch rote Ohren bekommen habe, und dann lief irgendwann „
Bullet with Butterfly Wings“ von
Smashing Pumpkins. Mega. Von zuhause war ich eher Pop-sozialisiert:
Michael Jackson,
Lisa Stansfield,
Genesis,
Rick Astley (und da war es noch erst gemeint) und die
Beatles natürlich. Und dann die Pumpkins! Ich war regelrecht infiziert, bin nach Hause und habe angefangen, alles zu hören, was irgendwie Rock ist. Crossover war so ein Ding in der Zeit und Bands im Kielwasser von
Nirvana.
Silverchair zum Beispiel, ich habe die „Frogstomp“ praktisch totgehört. Aber das konnte ja nicht alles sein. Ich war ein bisschen faul, ich habe mich immer an Leute drangehängt, die Ahnung hatten. Meistens Jungs. Bands durften immer bleiben. Meine erste echte Begegnung mit Punk waren wohl die
Ramones. Die bin ich dann mal so zurückgeschwommen, habe mal geguckt, was es noch so gab, das ich verpasst hab.
Green Day waren ein Riesending. Es ist aber so: Wenn ich Punk sage, meine ich eher eine Haltung, als drei Akkorde, Iro und Batta Batta.
Mark Holley von den
Black Foxxes zum Beispiel ist für mich der Inbegriff eines Punks, und der macht alles andere als Punk-Rock. Ich glaube, am Ende ist es alles
Billy Corgans Schuld: „Despite all my rage I am still just a rat in a cage.“
Wenn mensch Punk für sich als Haltung definiert ist meist auch der Weg nicht weit, sich irgendwie, irgendwo, irgendwann ( äh, Ähnlichkeiten zu popkulturellen Phänomenen sind rein zufällig) in „der“ Szene aktiv mitzuwirken. Gab es bei dir diesen Punkt auch?
Nein, ich bin immer einen sehr eigenen Weg gegangen. Ich habe mich weder optisch angepasst, noch irgendwie politisch innerhalb der Punkszene bewegt. Auf dem Schulklo lagen immer Flyer von der Antifa rum und ich fand die inhaltlich okay, aber ich hab mich gefragt: Kann man das nicht cleverer formulieren? Ich hatte viele Fragen und die Antworten, die ich bekommen habe, waren mir oft zu einfach. Meiner Geschichtslehrerin war ich zu links, den Leuten im AZ nicht links genug. Was ich immer sehr mochte, war die Solidarität, die es gab. Das ganze DIY-Ding. Ich hab viele nette Menschen getroffen auf Punkkonzerten. Das ist bis heute so. Das ist eine Community, da ranzt dich keiner an, dass du ihm im Weg stehst oder zu laut mitsingst. Leute helfen sich, sind cool miteinander, das ist eine große Stärke.
Und musikalisch bist du auch nicht tätig gewesen? Ich meine nicht unbedingt selbst in einer Band, sondern in irgendeiner Form wie Organisation, Merch, oder Schreiben? Du erwähntest im Vorfeld eine Farbseite im Ox…?
Ich hatte immer Leute mit Bands um mich herum und klar, denen habe ich geholfen, wenn was anstand, egal, was das war: Amps im Kofferraum in irgendwelche Provinznester fahren, Erdnussbutter kaufen für die Gastband, auch mal ne Ankündigung schreiben, aber nichts Wildes. Ich wollte immer gerne für ein Musikmagazin schreiben, hab da Bewerbungen hingeschickt und Arbeitsproben, aber mich wollte keiner. Das war noch vor dem Internet, es gab zwei Hände voll Magazine, und die hatten einfach ihre Leute. Zu der Farbseite im Ox bin ich durch Zufall gekommen. Ein Freund von mir hat fürs Ox geschrieben und irgendwann hatte er einen Interviewtermin mit
Logh, die ich zu der Zeit echt großartig fand. Ich kannte die auch persönlich. Christian konnte dann nicht zu dem Interview fahren und hat mich gefragt, ob ich das machen will. Es war der Tag vor meinem ersten Staatsexamen und ich bin nach Köln gefahren und hab das Interview gemacht. Ich hab mir vorher sogar noch ein Aufnahmegerät gekauft. Das Gespräch hat total Spaß gemacht. Ich hab es danach einfach so abgeschrieben, wie es war, und ans Ox geschickt. Denen hat es gefallen, die meinten, das ist irgendwie fresh, also hab ich eine
Farbseite gekriegt. Davon gab es damals nur wenige.
Du sagtest, dass du zur Zeit als du Punk und Rockmusik kennengelernt hast, du hauptsächlich von Jungs, Typen beeinflusst oder geleitet wurdest. Hättest du dir damals mehr weibliche Vorbilder gewünscht? Hatte die Dominanz der Männer in der Szene irgendeinen Einfluss auf dein Verhalten innerhalb und außerhalb dieser?
In erster Linie war ich die meiste Zeit meines Lebens mehr mit Jungs als mit Mädels befreundet, deshalb haben die mich stärker geprägt. Aber du hast schon Recht: Weibliche Vorbilder gab es kaum. Gab mal so ne Welle mit Girl Fronted Rock‘n Roll, aber da war ich schon zu alt, als dass mich das noch groß beeinflusst hätte. In diesem ganzen Rock-Bereich waren wenig Frauen unterwegs. Mit sechzehn habe ich die
Guano Apes in der Zeche in Bochum gesehen. Sandra Nasic fand ich cool, die war die totale Rampensau. Vielleicht hätte mir so eine
Billie Eilish auch gut getan.
Bevor ich das Punkrock Thema ad acta lege, erlaube mir noch eine Frage in diese Richtung. Nene oder Boris, welcher deiner Protagonist*innen in Nordstadt ist „mehr Punkrock“?
Boris. Boris scheißt auf alles, aber er hat ein gutes Herz. Er ist klug und sensibel, aber er verzweifelt an sich, an der Welt, an den Menschen. Manchmal schreiben Teenager mit Edding FUCK THE WORLD an die Toilettenwand. Boris könnte sich das auf die Brust tätowieren lassen. Aber er hasst die Menschen nicht nur, er begreift sie auch. Und er verarbeitet das künstlerisch, sticht beeindruckende Kupferstiche, weigert sich dann aber, daraus was zu machen. Er ist Verweigerung. Und er ist Wut. Und er ist Liebe. Und Rebellion.
Aber er lügt viel. Wahrscheinlich aus Selbstschutz, denke ich. Macht ihn trotzdem dann unsympathisch. Und dann haut er wieder so Sachen raus wie: „Jeder denkt in Klischees. Sonst überleben wir doch gar nicht.“ Bringt Nene und mich als Leser dann zum Nachdenken. Puh, ist das wirklich so? Brauchen wir Klischees um im Chaos des Alltags nicht komplett durchzustehen?
Manche Dinge würden ohne Klischees sicher nicht funktionieren: Witze zum Beispiel, aber auch Überraschungen. Es gibt nichts Geileres, als wenn dich jemand so richtig von den Socken haut, weil er einfach so gar nicht dem Bild entspricht, das du von ihm hast. Und vielleicht ist es gut, in einer sehr unüberschaubaren Welt, wenn das Gehirn die Dinge erst einmal irgendwo ablegen kann. Blöd ist halt nur, wenn du die Schublade dann nie wieder aufmachst. Das Klischee an sich ist ja nicht das Problem, sondern die Selbstherrlichkeit, die daraus erwächst, wenn man denkt: Ich weiß, wie du bist.
Bemerkenswert, dass du Boris diese Erkenntnis in den Mund gelegt hast, da dieser aufgrund seiner Behinderung doch deutlich unter den Klischees, den Vorurteilen und den daraus resultierenden psychischen Verletzungen leidet. Im wird doch immer wieder eingetrichtert, dass er vieles nicht kann. Kein Widerspruch für dich?
Nein, überhaupt nicht. Ich sage ja: Er begreift die Menschen. Er hegt auch keinen Groll gegen seine Mutter, obwohl sie im Wesentlichen die Schuld daran trägt, dass er an Kinderlähmung erkrankt ist. Er sagt zu Nene: „Ich habe dich nicht abgeschrieben. Ich habe mich abgeschrieben.“ Zu sich selbst ist er sehr streng. Und er hasst es, Dinge nicht zu können. Aber es ist wahr: Er kann manche Dinge nicht. Nene hilft ihm zu verstehen, dass das egal ist, dass er ist, wer er ist.
Nene hilft, wirkt aber selbst oft unsicher. Und wirkt dadurch so echt. War dir beim Schreiben von Anfang an klar, wie du Nene und Boris gestaltest?
Schreiben ist ein extrem intuitiver Prozess bei mir. Ich hab in dem Sinne keinen Plan. Am Anfang stehen die Figuren und sie begleiten mich durch meinen Alltag. Ich könnte zum Beispiel an der Supermarktkasse stehen und Nene vor mir sehen: Wie steht sie da? Was legt sie aufs Band? Spricht sie mit der Kassiererin? Wo packt sie die Einkäufe rein? Bei NORDSTADT hatte ich am Anfang gar keine Figur. Ich hatte nur diese erste Szene im Schnee. Und dann kam der Rest.
Seit wann schreibst du denn eigentlich? Ist das schon als Kind für dich eine Ausdrucksform gewesen oder kam das erst später?
Ja, tatsächlich schon immer, seit ich schreiben kann. Ich hab bei ein paar Lesungen in der letzten Zeit einen Schulaufsatz aus der vierten Klasse vorgelesen, in dem ich meine Familie in die Pfanne haue. Das Publikum hatte sehr viel Spaß.
Und warum erst jetzt der Debüt Roman? War Nordstadt ein Corona Projekt?
Nein, ich hatte zum ersten Mal das Gefühl: Das könnte es sein. Und ich hab einen Verlag gesucht. Das habe ich erst zweimal in meinem Leben gemacht: einmal mit Anfang Zwanzig und jetzt. Und jetzt hat es geklappt. Mein Roman war ein unverlangt eingesandtes Manuskript. Dass das jemand liest und gut findet, das ist ein fucking Sechser im Lotto.
Krass. Und dann direkt der Steidl Verlag.
Und dann wirst du auch noch von Elke Heidenreich im Radio besprochen. Plötzlich in der Hochkultur, im Literaturbetrieb angekommen. Lesungen in Buchhandlungen… Wie fühlt sich das an, kannst du das schon alles in Worte fassen?
Es macht Spaß. Ich mache gerade viele Dinge zum ersten Mal. Das ist cool. Ich lerne gerne dazu. Ich hab erst vor ein paar Jahren angefangen, Kite surfen zu lernen, grad frische ich mein Italienisch auf, mir fällt immer irgendwas ein. Und jetzt so unterwegs zu sein, Leute zu treffen, über das Buch zu sprechen, zu lesen, das macht richtig Bock. Aber es ist nicht das, wofür ich das mache. Am Ende ist es das Schreiben selbst, das mich flasht. Ich bin echt dankbar, dass ich einen Verlag gefunden hab, der mir so viel Freiheit lässt in allem, was ich tue. Ich sage immer:
Steidl ist mein
Grand Hotel Van Cleef. Und es ist Hammer, einen Lektor zu haben! Daniel ist der Coolste einfach. Ohne ihn wäre das alles gar nicht passiert.
In Nordstadt sprichst du viele gesellschaftliche Probleme an: Ableismus, daraus resultierende Armut, physische und psychische Gewalt, Vergewaltigung und wie alle Probleme ineinander übergehen.
Für ein schmales Büchlein von 120 Seiten schon eine Menge Themen( die trotzdem überhaupt nicht überladen wirken) Ist das deiner intuitiven Schreibweise „geschuldet“, wieviel Wut steckt da auch in dem Text, wieviel Wille zum Aufmerksam machen? Oder sind es rein dramaturgische Elemente?
Natürlich bin ich wütend, ich zitiere da grad mal Heisskalt: „…wir alle sind wütend und wenn du nicht wütend bist, siehst du nicht genau genug hin.“, und natürlich will ich aufmerksam machen. Nur eben nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Das bringt nichts. Ich hab selbst auch eine Zeigefinger-Allergie. Und ich bin nicht so der Parolen-Brüller. Aber ich kann Menschen eine Stimme geben. Und das tue ich.
In Nordstadt baust du auch ein Fjort Zitat ein. Inspiriert dich Musik beim Schreiben? Und hörst du beim Schreiben Musik?
Unbedingt. Musik inspiriert mich sehr, versetzt mich in Stimmungen. Manchmal höre ich auch beim Schreiben selbst Musik, aber sonst ist es eher so, dass mich bestimmte Platten über eine Zeit begleiten und damit auch den Schreibprozess begleiten. Ich höre die dann ständig, setze mich stark damit auseinander, was eine Band sagt, wie sie es transportiert, fühle da so rein. Mir wird das auch null langweilig, wenn ich andauernd das Gleiche höre. Da bin ich ziemlich nerdy.
OK, was läuft denn momentan ständig bei dir? Und auf welchem Medium hörst du am liebsten? Wir bei Vinyl-Keks haben da ja einen Favoriten…
Italienischer Rap läuft aktuell bei mir! Die „Caos“ von
Fabri Fibra. Und
Kraftklub, Kraftklub geht eigentlich immer.
Ich habe sowohl CDs als auch Platten, höre aber auch Musik vom Handy, wenn ich unterwegs bin.
Und was liest du zur Zeit?
Welches Buch hat dich in letzter Zeit total begeistert?
Im Moment lese ich „
Nachtschwärmerin“ von
Leila Motley. Ich habe erst zwei Kapitel, aber es hat mich schon. Zuletzt begeistert hat mich „
Dschinns“ von
Fatma Aydemir. Das habe ich sehr sehr gerne gelesen.
Du bist ja als Lehrerin tätig, welches Buch würdest du gerne mit deine*n Schüler*innen lesen und warum?
Ich habe da gar nicht unbedingt offene Wünsche. Wenn ich etwas lesen möchte, dann kann ich das ja jederzeit machen. Der Lehrplan sieht in praktisch jedem Schuljahr mindestens einen Roman vor. Ich habe gerade mit einer siebten Klasse „
Krabat“ gelesen, das haben sich die Schüler:innen ausgesucht. Da war ich überrascht, immerhin hat es sich gegen „
Tschick“ durchgesetzt. Aber es hat mir wirklich gefallen, weil es unglaublich viele Gesprächsanlässe bietet und sehr sehr starke Figuren hat. Jetzt schauen wir noch den Film. Den kenne ich auch noch nicht. Ich bin gespannt.