Barrierefreiheit beginnt bei jedem Einzelnen von uns – Inklusion auch. Letztere ist zwar bereits in vielen Köpfen angekommen, wirklich gelebt wird sie aber noch viel zu selten. Mit dem weiterführenden Thema „Barrierefreier Zugang zu Musik“ und „Inklusion innerhalb der Szene“ beschäftige ich mich selbst auch erst seit meine Tochter mit einer Behinderung zur Welt kam und ich somit indirekt selbst betroffen bin. Warum ist das so? Wir möchten erfahren und verstehen, warum diesem Thema scheinbar noch immer zu wenig Beachtung geschenkt wird, aber auch aufzeigen, wo sich in den letzten Jahren schon etwas getan hat. Oft habe ich auch das Gefühl, dass die Barrieren bereits in Kommunikation und Sprache auftauchen. Wir wollen dabei helfen, diese Barrieren abzubauen und den Menschen Gehör verschaffen.
Den Anfang macht heute Arnica Montana, Jahrgang 76, seit 30 Jahren in Sachen Punkrock unterwegs. Mit 2017 erhielt sie die Diagnose „Multiple Sklerose“. Im folgenden Interview erzählt sie, wie sie mit ihrer Einschränkung umgeht, von ihren Erfahrungen auf Konzerten, und was sie sich von der Szene wünscht.
Liebe Arnica Montana, Ich freue mich sehr, dass Du den Auftakt für unsere neue Reihe „MusInclusion“ machst. Wie und auf welche Art betrifft Dich das Thema Inklusion und welche Erfahrungen hast Du in den letzten Jahren damit in der Szene gemacht?
Ich möchte mal genau an dieser Stelle, obige Frage allen Menschen stellen, denn die Zukunftsprognose „ungewiss“ gilt für jeden einzelnen von uns. Behinderung kann jeden treffen, aber auch wirklich jeden, unabhängig von sozialem Status und körperlicher Verfassung, z.B. durch einen Unfall oder eine Krankheit. Das geht manchmal schneller als gedacht. Und Inklusion ist ja auch das einzige Thema, das wirklich jeden von uns betreffen kann. Ich selbst habe ja noch Glück im Unglück finde ich immer, ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben, finde neue Möglichkeiten wenn nötig. (Ich gehe zum Beispiel trotzdem Skifahren oder reiten). Da ich nicht wissen kann, wie meine MS verläuft, weiß ich nicht, um wie viel stärker mich dieses Thema noch in Zukunft belasten wird. Es gibt zwar Prognosen, aber davon möchte ich mich lieber etwas befreien, denn es ist schlichtweg nicht möglich den Verlauf eindeutig vorauszusagen. Ich selbst habe durch die MS eine Einschränkung auf einem Bein (Fußhebeschwäche) und benutze daher für komplizierte Strecken oder um unabhängig zu sein (selbstverständlich auch als Waffe :-D) gerne einen Gehstock, manchmal hake ich mich aber auch dann unter bei meinen Freunden.
Im Moment wird ja das Thema Sexismus in der Szene thematisiert und auf verschiedenen Plattformen finden wertvolle Diskussionen statt. Warum denkst Du, bekommt man von dem Thema “Inklusion” in der Szene eher weniger mit?
Ich denke schon, dass dem Thema von verschiedenen Aktivisten und auch Veranstaltern, wie dem SO36 Berlin Aufmerksamkeit geschenkt wird. Für mich selbst gehört auch Sexismus als Thema nicht erst seit gestern auf den Tisch. Ich bin froh, wenn dem jetzt mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, was auch endlich Zeit wurde, und ich hoffe auch, das bleibt so. Warum das Thema Inklusion weniger als Sexismus diskutiert wird, kann ich nicht nachvollziehen. Es betrifft ja sehr viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Menschen mit temporären und situationsbedingten Einschränkungen.
Gibt es in Deinen Augen Zusammenhänge zwischen den beiden Themen?
Ganz klares JA. Mit bestimmten gemeinsamen Schlagworten wie Diversität, Selbstbestimmung, Chancengleichheit, Solidarität, Diskriminierung, Empowerment – um mal einige zu nennen. Subtiler Sexismus beginnt für mich auch schon da, wo Selbstbestimmung und die Möglichkeit in sexueller und partnerschaftlicher Hinsicht wahrgenommen zu werden, nicht gegeben ist, und der eingeschränkte Mensch als neutraler Teilnehmer ohne eigenes Sexualleben angesehen und von der Teilhabe ausgeschlossen wird. Jetzt sind wir bei dem Part des Sexismus angekommen, bei dem es um die Begriffe Schönheitsideal und Rollenbild geht. Deswegen finde ich es auch toll und wichtig, dass es immer mehr Instagramprofile von z.B. Models, Schauspielerinnen und Aktivistinnen mit Handicap gibt, die sehr viele Follower generieren können, was ihnen die Chance gibt, sich zu zeigen, und Modelabels die Möglichkeit, auf sie aufmerksam zu werden und sie zu buchen. Und das wird auch immer mehr, glücklicherweise, weil Vielfältigkeit eine immer größere Rolle spielt.
Sexismus ist für mich ein wichtiges Thema, das ich z.B. sogar in meinem eigenen Schmucklabel aufgreife. Dafür habe ich zum Beispiel am 25.11. , dem „Tag gegen Gewalt gegen Frauen“ , ein extra Schmuckstück angefertigt.
Es gibt auch direkte intersektionelle Aspekte zwischen Behinderung und Geschlecht ( Ableism und Sexismus). So sind Frauen mit Behinderungen erhöht sexueller Gewalt und Missbrauch ausgesetzt, besonders die, mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen, z.B. gehörlose Frauen und Frauen mit psychischen Erkrankungen, die in Einrichtungen leben, denn die sind eben auch meist relativ stark abhängig. Die Täter kommen dabei oft aus dem unmittelbarem sozialen Umfeld, aber auch völlig unbekannte Täter*innen an öffentlichen Orten – da müsste einfach mehr Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass sich Menschen auch mal anders verhalten, weil sie z.B. psychisch oder physisch in bestimmter Weise eingeschränkt sind und auch eines besonderen Schutzes bedürfen (z.B. ein Button auf dem Frauenklo mit Warnlampe, die für jeden sichtbar ist, so wie damals im SJZ Drugstore Berlin).
Wie definierst Du Barrierefreiheit in Bezug auf Konzerte? Gab es schon einmal die Situation, dass Du ein Konzert oder Festival etc. nicht besuchen konntest, aufgrund unzureichender Ausstattung bzgl. Barrierefreiheit/Sanitäranlagen etc.?
Was ich total furchtbar finde, sind Bereiche wie z.B. das RAW Gelände in Berlin (Anm.: Veranstaltungsgelände/Kulturzentrum in Berlin) – das ist für mich wie eine Mondlandschaft und setzt sich zusammen aus Stolperfallen wie holprigen Wegen, Treppen etc., da muss ich lange vorher planen, wie ich da hinkomme. Das nervt mich total, und ich finde es nicht in Ordnung. Denn Barrierefreiheit bedeutet für mich, dass der Bereich für alle Personengruppen zugänglich ist, ohne, dass ich mich vorbereiten muss, einen Ausweis vorzeigen oder im Vorfeld kostenpflichtige Informationen per Telefon einholen muss. Außerdem will ich spontan und selbständig die Location besuchen können. Ich selbst habe die positive Erfahrung gemacht, dass, wenn ich offen kommuniziere, mir gerne geholfen wird oder die Menschen auch Rücksicht nehmen. Das bedeutet aber auch, dass ich mich in dem Moment outen muss, was ich nicht immer möchte.
Barrierefreiheit bedeutet aber auch, dass bereits auf der Webseite des Veranstalters steht, womit ich rechnen muss. Es kann unangenehm für Betroffene sein dann vor Ort z.B. aktiv nach Hilfe fragen zu müssen und damit eventuell total im Mittelpunkt zu stehen, weil dann vielleicht alle mitbekommen, wie für jemanden da jetzt z.B. eine mobile Rampe angefahren kommt. Besser wäre für das Unabhängigkeitsgefühl, die Rampe wäre einfach selbstverständlich da ohne groß darum bitten zu müssen. Echte Barrierefreiheit sollte für Menschen mit Sehbehinderung, Bewegungseinschränkung, Hörbehinderung und kognitiver Beeinträchtigung gleichermaßen vorhanden sein. Wer mal an einen bierseligen Abend denkt, wird schnell merken, dass dies nicht nur Menschen mit Behinderung zu Gute kommt, sondern auch ich sage jetzt mal den „temporär Beeinträchtigten“. Hehe 😉
Hast Du eine Idee, wie man Menschen mit Behinderung im Musikbereich sichtbarer werden lassen kann? Kennst Du inklusive Bands/Musiker*innen und was denkst Du, warum es so wenige (uns bekannte) inklusive Bands gibt?
Durch Projekte, Artikel wie diesen oder Öffentlichkeitsarbeit hoffe ich, dass die Menschen, die darauf aufmerksam werden oder darüber lesen, sich empathisch mit dem Thema selbst auseinandersetzen, außerdem wünsche ich mir gezielte Förderung.
Mir fällt da vor Allem ein Musiker ein, den jeder kennt, das ist jetzt zwar gar kein Punkrock und
auch nicht unbedingt meins, aber der ist so gut als Rolemodel, weil er weltweit erfolgreich ist mit Handicap und eben immer so abgeht: Stevie Wonder. Er engagiert sich für alle Menschen mit Handicap und ist ein Botschafter und Verfechter der Barrierefreiheit: “We need to make every single thing accessible to every person with a disability.“ (Stevie Wonder, Grammy Awards 2016)
Es könnte nämlich vielleicht unter anderem an der erschwerten Umsetzbarkeit, wie Erreichbarkeit des Proberaums/Abhängigkeit von Fahrdiensten, Barrierefreiheit von Bühnen, Mangel an Unterstützung, fehlende Rolemodels und dadurch vielleicht mangelndes Selbstbewusstsein liegen („Das will doch keiner sehen etc.“), dass ansonsten wenige Musiker mit Handicap bekannt sind. Ich denke es gibt mehr Bands als gedacht mit Mitgliedern, die zwar eine Einschränkung haben, dies aber nicht thematisieren, um z.B. Stigmatisierung zu vermeiden. Einschränkungen sind ja sehr vielfältig und nicht immer sichtbar. Sie können psychischer oder physischer Natur sein. Im Grunde ist an diesen Stellen doch die Inklusion dort geglückt, wo nicht darauf aufmerksam gemacht wird. Ansonsten habe ich eine persönliche Hymne im 77 Punk Stil: „Krückstock“ von den Shocks aus Berlin.
Was läuft schon gut, wo gibt es in Deinen Augen noch unbedingt Nachholbedarf?
Es gibt schon einige Projekte für Inklusion. Zum Beispiel Kon-fett-I im SO36 in Berlin. Wo Djs* und Musiker*innen mit und ohne Behinderung eine Bühne geboten wird und auch „(…) die Gäste ermutigt und gestärkt werden sollen, sich als gleichwertige Teile von Gesellschaft und Nachtleben zu verstehen“. (Quelle: Musicboard Berlin/Kon-fett-I)
Nachholbedarf besteht zum Beispiel bei dem Sonderfahrdienst in Berlin, der zwischen 1 und 5 Uhr morgens einfach aussetzt, soweit ich informiert bin.
Was wünscht Du Dir von der Szene?
Solidarität, Diversität, Investition in Inklusions-Projekte und Barrierefreiheit- auf kreative Art, da wo das Geld fehlt.
Vielen Dank, liebe Arnica Montana für Deine Offenheit und das interessante Gespräch !