Im letzten Interview haben wir von Sif, dem Sänger der schweizer Band Missling, erfahren, wie er und seine Band die Barrieren bei Konzerten gemeinsam überwinden und was er sich von Konzertveranstaltern wünschen würde (zum Interview geht’s hier) .
Mein heutiger Interviewpartner Patrick, 39 Jahre, kommt aus Essen und arbeitet seit fast 20 Jahren im Franz Sales Haus, einer der größten Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Er berichtet uns, wie es ihm gelingt, seine Berufung und seine Leidenschaft miteinander zu verbinden, warum die Barrieren in unseren Köpfen Inklusion verhindern und was er unter dem Begriff „Teilhabe“ versteht.
Hallo lieber Patrick, ich freue mich, dass Du Dich bereit erklärt hast, Deine Erfahrungen mit uns zu teilen. Zuerst würde ich gerne wissen, inwiefern Dich persönlich das Thema Inklusion betrifft!
Wie ich Dir bereits erzählt habe, ist es mein Beruf und auch meine Berufung, Menschen mit Behinderungen auf ihrem Lebensweg ein Stück weit zu begleiten.
Gibt im Rahmen Deiner Arbeit in der Einrichtung Schnittstellen, an denen Du Deine Leidenschaft für Musik mit dem Beruf verknüpfen kannst?
Ja, die gibt es sehr wohl. Ich habe das große Glück, nicht im alltäglichen Gruppendienst zu arbeiten, sondern in einem Freizeitbereich. Dort passiert all das, was im Alltag der Menschen nach der Arbeit, der Schule oder dem Berufsleben allgemein (Rente) passiert. Der Freizeitbereich ist ein spannendes und abwechslungsreiches Arbeitsfeld. Er umfasst neben der Tagesstruktur für Rentner und Menschen mit schwerst mehrfachen Behinderungen, auch Kulturangebote zur Freizeitgestaltung, inklusive Offene Treffs und Ferienprogrammen. Weitere für mich sehr wichtige Schwerpunkte in meiner Arbeit, sind die Organisation und Durchführung von Kulturfesten und Veranstaltungen, die inklusive Band und unser offener Fernsehkanal “Franz TV”, in dem wir Beiträge für und mit unseren Menschen im Haus Produzieren.
Das hört sich spannend an! Du bist ja auch außerhalb Deiner Arbeit musikalisch ziemlich aktiv, erzähl uns doch ein bisschen etwas über deine Projekte!
Meine erste Band hatte ich mit 12 Jahren in der weiterführenden Schule. Von dem Zeitpunkt an war das Musizieren für mich nicht mehr wegzudenken. Ich spiele heute nur noch in 3 Bands. Das war früher mal anders 😉
Ich mache neben verzerrter Gitarrenmusik und Singer-Songwriter-Zeugs mit eigenen Texten, noch ziemlich viel Covermusik für sämtliche Anlässe. Da komme ich ziemlich weit in die Welt hinaus. Mittlerweile mache ich auch Hörspiele, Filmvertonungen und so 1-2 Podcasts.
Nimmst Du Menschen mit (sichtbaren) Behinderungen im Publikum wahr, wenn Du selbst auf der Bühne stehst und wenn ja, wie würdest Du deren Anwesenheit prozentual einschätzen?
Ja das tue ich. Allerdings ist die Anzahl leider sehr gering bis selten.
Hast Du mit Menschen mit Behinderungen schon einmal ein Konzert / eine Veranstaltung besucht? Wenn ja, welche Hindernisse musstet ihr überwinden und wäre es für einen Mensch mit Behinderung möglich gewesen, die Veranstaltung selbständig zu besuchen?
Wenn ich mit Menschen mit Behinderungen eine solche Veranstaltung besucht habe, haben wir meistens selber auf der Bühne gestanden und bis jetzt waren die Veranstaltungen immer sehr gut vorbereitet. Es gab einen barrierefreien Aufgang zur Bühne und auch im Club / Saal gab es keine großen Hindernisse. Ich weiß natürlich nicht, wie die Infrastruktur der jeweiligen Stadt aufgebaut war, d.h. wie die Besucher:innen mit Behinderungen, mit dem ÖPNV zum Veranstaltungsort gelangt sind.
Wie könnten Menschen mit Behinderungen in der Musikszene – auf der Bühne, hinter der Bühne und im Publikum – sichtbarer gemacht werden? Was müssten die Voraussetzungen sein und wer ist in Deinen Augen dafür verantwortlich?
Zu dieser Frage fällt mir das Stichwort “Teilhabe” ein.
Menschen mit Behinderungen, welche z.B. in einer Band spielen, hinter oder vor der Bühne arbeiten, nehmen teil. Ein Hervorheben der Behinderung würde diesem Teilhabe Gedanken widersprechen. Eine inklusive Kommunikation wäre in dieser Situation wichtig. D.h. Die Möglichkeiten hervorzuheben und nicht die Menschen mit Behinderungen. Ich würde mir wünschen, dass es in Zukunft keine Rolle mehr spielt, wer was kann, oder nicht kann, sondern nur, dass alle teilhaben können.
Das hast Du sehr schön ausgedrückt. Für Teilhabe ist allerdings auch Barrierefreiheit Voraussetzung. Wie definierst Du Barrierefreiheit und was für Erfahrungen machst Du damit im Alltag? Wie empfindest Du die aktuelle Situation auf Konzerten / kulturellen Veranstaltungen?
Die meisten Barrieren befinden sich in unseren Köpfen. Es fängt schon damit an, dass ich vielen Menschen begegne, die mir sagen, dass ihnen “die Behinderten” leid tun. Oder auch die Aussage auf meine Antwort, wo ich denn arbeite: “Also das könnte ich ja nicht!”
Mir hat mal, auf einem Spaziergang mit einem “Rolli”, jemand 20 Euro in die Hand drücken wollen und gesagt: “Hier, für die armen Behinderten.” Ich konnte dem Mann erst mal gar nicht böse sein, da ich ihm seine Unsicherheit total angemerkt habe. Ich habe ihm gesagt, dass ich zum einen das Geld überhaupt nicht annehmen dürfe. Außerdem könnte er viel mehr für unsere Menschen tun, in dem er uns einfach mal in unserem „Offenen Treff“ auf eine Tasse Kaffee besuche, mit uns zusammen ’ne Runde “Mensch ärgere dich nicht” spielt, auf ein Kartenspiel oder auch einfach mal auf ein Schwätzchen da bleibe. Damit bin ich allerdings gegen Windmühlen gerannt. Was ich meine, ist, dass wir es schaffen müssen ein Bewusstsein zu entwickeln, dass Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft leben und wir es als normal betrachten. Und es sollte egal sein, ob jemand eine Behinderung hat, welche Sexualität dieser Mensch hat, oder wo er her kommt. Natürlich sollten Hauseingänge, Bushaltestellen, Geschäfte… (Ich könnte jetzt zwei Seiten voll schreiben) jedem Menschen einen Zugang gewähren. Das funktioniert aber auch nur, wenn wir in unseren Köpfen Barrieren abbauen und den Menschen an sich wahrnehmen.
Wie gesagt, auf Konzerten sehe ich viele Besucher:innen, die aufmerksam sind und z.B. Rollstuhlfahrer:innen Platz machen, sie sogar mit dem Rolli zum Stagediving in die Luft heben.
Ich erinnere mich an eine Situation vor vielen Jahren, wo eine Rollstuhlfahrerin bei einem Konzert in den Saal kam. Ich habe sie gesehen und sie direkt angesprochen, ob sie Hilfe benötigt, weiter nach vorne zu kommen. Sie wirkte etwas pikiert und pflaumte mich von der Seite an, dass sie das ja wohl alleine schaffe. An dieser Stelle war ich total verunsichert und habe mir gedacht: “Ja, dann wird sie das wohl auch schaffen. Schließlich lebt sie mit dieser Behinderung und kommt in ihrem Leben anscheinend gut klar.” Auch das war ein Prozess, in mir eine Barriere ab zu bauen und den Menschen als solchen zu sehen. Ihre / seine Behinderung nicht hervorzuheben. Es ist für mich normal, wenn ich Menschen mit Behinderungen begegne. Und wenn jemand Hilfe benötigt, wird er / sie sich schon irgendwie bemerkbar machen. Wenn jemand dazu nicht in der Lage ist, wird diesen Menschen mit Sicherheit jemand begleiten.
Das sehe ich genauso – die Bereitschaft bei jeder / jedem von uns muss vorhanden sein, an sich selbst zu arbeiten und eigene Denkmuster zu prüfen und gegebenenfalls umzudenken. Und das gelingt nur über Kommunikation und Begegnung. Inklusion einfach „gut finden“ reicht nicht.
Hast Du das Gefühl, dass dem Thema Inklusion (allgemein und im Besonderen auf das Thema Zugang zu Musik) bisher ausreichend Beachtung geschenkt wird? Was würdest Du Dir in Bezug auf dieses Thema wünschen?
Wenn wir mit unsere inklusiven Band gebucht werden, gehen die Leute oft davon aus, dass wir eine Sing- und Klatsch-Band sind. Bands mit Musiker:innen mit Behinderungen werden oft stigmatisiert. Ich habe vor einiger Zeit mal eine ZDF Produktion gesehen, in der es um eine Band mit Behinderung ging. Das war der absolute Albtraum, weil die Menschen so unfassbar klassifiziert wurden. Das war eine typische Kombo aus Menschen mit Downsyndrom, die in den Vordergrund gestellt wurden und ganz furchtbare Musik gemacht haben. Die Leute vor der Bühne haben geklatscht und du hast ihnen das Mitleid nur so angesehen. Wahrscheinlich saßen die Zuschauer:innen vor dem Fernseher und haben sich gedacht: “Ja toll, was die Behinderten so können.”
Totaler Bullshit. Wenn wir mit unserer Band unterwegs sind, dann geht da richtig die Post ab. Natürlich machen wir Covermusik. Aber die Menschen in dieser Band stellen sich nicht zur Show als etwas, was sie nicht sind. Jede:r spielt ihr /sein Instrument so wie sie / er es kann. Und jede:r kann sich spürbar auf der Bühne ausleben. Bei uns ist jede Musikerin und jeder Musiker gleich viel wert. Wir entscheiden gemeinsam was wir spielen und wir können uns alle gleichermaßen mit der Musik identifizieren.
Gibt es etwas, was Du gerne in diesem Zusammenhang mal loswerden würdest ?
Danke für dein Engagement!!! Ich hoffe, dass wir irgendwann mal mit unseren holländischen Freund:innen auf einem Stand sind, was die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen angeht. Aber da scheint sich ja in den letzten Jahren auch einiges getan zu haben. Ich denke wir sind auf einem guten Weg.
Vielen Dank Patrick, für Deine Offenheit und das interessante Interview!