Der ein oder andere Leser des Vinyl-Keks hat bestimmt noch das zweiteilige Interview des Kernkrach-Imperators Jörg Steinmeyer vor Augen. Durch dieses Interview ist so etwas wie eine nähere Bekanntschaft zwischen Jörg und mir entstanden. Jörg ist ein Besessener, was Vinyl angeht. Er lebt für den Laden, den Shop und seine Labels. Er hat immer schon die nächste und übernächste Idee am Start. Kaum ist das eine Projekt ausverkauft, kommt das Nächste hinterher. Tatsächlich kann ich bestätigen, dass Jörg nicht in Bildern, Zahlen oder Farben denkt, sondern in Rillen.
Ich bin sehr stolz, dass ich das schon fast ausverkaufte Vinyl, den Sampler: „Lieder, die kein Label wollte“ hier vorstellen darf. Ich bin sehr stolzer Besitzer eine Promo-Ausgabe. Trotz des fast ausverkauften Vinyls, rezensiere ich den Sampler, da Jörg versprochen hat eine kleine Restmenge von 20 Exemplaren für die Leser des Vinyl-Keks an die Seite zu legen. Ansonsten geht die limitierte Auflage bereits sprichwörtlich in alle Welt. Der Sampler kommt im sehr aufwendigen Cover aus verstärktem, edlen, matten Papyrus daher. Die Frontseite ziert eine auf Vintage gemachtes und dunkel sepiagefärbtes, unscharfes Foto zweier Personen. Es handelt sich dabei um die Ur-Ur-Oma des Label-Chefs persönlich, nebst einer unbekannten Begleitperson.
Die Rückseite schmückt das Tracklisting und die üblichen Information. Ein einseitiges Blatt hat in netter Aufmachung die Texte am Start. Ferner muss man wissen, dass es sich bei diesem Sampler um eine One-sided-12inch-EP im warmen Braunton– fast Schokolade gleich – handelt. Und als wäre das nicht genug, befindet sich auf der Rückseite des Vinyls, ein nicht weiter spezifiziertes Motorrad aus alten Tagen. Allein diese Beschreibung zeigt, wie sehr Jörg seine Aufgabe auf diesem Planeten liebt und lebt. Ich könnte hier schon aufhören, wohl wissend, dass der ein oder andere jetzt schon zuschlagen wird, aber Leute es kommt noch besser.
Kommen wir zu den fünf auserwählten Bands. Wer minimal Electro, Wave und NDW mag, kommt hier voll auf seine Kosten. Alle Tracks sind in deutsch gesungen und haben diese an die NDW angelehnte Niedlichkeit und Ironie. Die beiden Künstler dahinter sind Haiko Herden und Holger M. Vier Songs gehen auf das Konto von Haiko Herden, geboren 1968 in Hamburg. Er ist seines Zeichens Mediendienstleister, Musiklabel-Betreiber und Musiker im Wave- und Electro-Bereich (u.a. The Evasion On Stake , Charles Lindbergh n.e.V. , Anti Trust ). Er bescherte der Welt zusammen mit Freunden ein Tape-Label namens Beton Tapes , zehn Jahre laufende Fernseh- als auch Radioshows im Offenen Kanal Hamburg, ein Online-Filmlexikon, ein Online-Musik-Zine sowie eine ganze musikalische Stilrichtung namens „Neue Luruper Welle“ . Einen Song steuerte Holger M. zu. Leider konnte ich zu diesem Musiker nicht viel finden. Es handelt sich jedoch immer um Projekte, Bands, Side-Kicks der beiden Künstler. Manchmal nur für diesen einen Song gegründet. Man findet im Netzt nicht viel darüber. Selbst bei Discogs ist es sehr spärlich mit Information. Was aber nur beweist, dass der Sampler-Titel stimmt! Also bitte ich um Verständnis, wenn es nicht für jede Band einen Internet-Link gibt.
Auftakt machen Anti Trust mit „Neonmenschen“, ein wunderschönes Stück, was eine dystopische Zukunft beschreibt und mit für Minimal typischen Melodie und Vocals schon mal ein erstes Highlight setzt. Die Melodie ist eingängig und wird über den gesamten Song wiederholt. Und textlich werden wir mit einer eher düsteren Zukunft konfrontiert. Trotz aller Widrigkeiten, spricht der Held, „ich werde hier bleiben, so wie wir alle“. Das klingt nach Untergrundkampf, Auflehnung und Solidarität. Also Klasse.
Danach wird es ein wenig skuril, denn das zweite Stück ist der Soundtrack zum Roman „Die Rote Gefahr“ von Haiko Herden, den es wirklich gibt. Der Song „Was bisher geschah“ von Die Rote Gefahr glänzt mit einer repetierenden Melodie, welche jedem 80er Video-Game zur Ehre gebühren würde. In Endlos-Schleife, würde sich die Melodie in den Kopf sägen. Dazu kommt dann die unvermeidlich düstere Stimme, welche in fünf Zeilen den Roman zitiert oder zusammenfasst. So genau weiß man das nicht und muss es auch nicht. Spannung erzeugt die ansteigende Lautstärke der Stimme, gepaart mit Verzweiflung. Das hat Dramatik! Das Ende singt dann eine Roboter-Vocoder-Stimme und man kann sich selbst das Ende der Geschichte zusammenreimen.
Vergesst „Fred vom Jupiter“ von Andreas Dorau! Mit dem dritten Song „Weltraummenschen“ katapultieren uns Two Minute Warning in den Kosmos. Dieser Song hat alles, was es für einen Ohrwurm benötigt. Eine tolle Melodie und einen eingängigen Text, der zum Mitsingen geradezu einlädt. Und am Ende der Geschichte hat die Story ein happy end, den unser Held kommt zu seiner Liebsten zu Besuch.
Song Vier „Zucksound“ von Klingelton 17 ist Avandgarde pur. Textlich übersichtlich, wird über die simple Melodie ein Synthie-Rauschen und -Flickern gelegt, was den Song noch spannender macht. Ein echtes Highlight, weil der vierzeilige immer wieder wiederholt zum Mantra wird. Die Textzeilen „Das ist ein englisches Lied, aber ich singe es auf deutsch“ zeigen die ganze Rebellion, die hinter diesem Kleinod steckt. Echte Tiefe, verpackt in Minimal-Melodie und -Text. Wenige geht nicht. Chapeau!
Der Song „B“ von Organismus ist ein würdiges Ende dieser Reise. Ein schöner Beat eröffnet den Song fast in gemäßigter DAF-Art. Auch die Art des Sing Sangs erinnert mich an DAF, allerdings nicht in dieser intensiven Härte, sondern eher als Zucker-Watte-Version. Ganz deszendiert wird mit fröhlichen Synthie-Collagen (so klingt Feen-Glitzerstaub) im Gegensatz zum Sprech-Schrei-Gesang gespielt. Das macht den Song extrem interessant. Fast schon zu viel Instrumentierung für Minimal.
Am Ende hebe ich den Daumen, was Kaufempfehlung bedeutet. Der Magier aus Warendorf lässt uns auf seinem Kernkrach Schallplatten einen Blick aus dem Inneren seines Doms schauen und wir sind gebannt von dem Blick durch die bunten Glasfenster. Wer eine der zwanzig letzten Vinylitäten erwerben möchte, tut das am besten hier im Shop.