Ich lese in der Oktoberausgabe des deutschen Rolling Stone ein Interview mit Charly Hübner. Das ist für sich schon eine geile Sache, da Charly Hübner mir über die Jahre als Schauspieler und Sprecher von Hörbüchern und -spielen ans Herz gewachsen ist. Ein echter Typ eben, der sagt, was er denkt und in seinen Rollen immer ein wenig eckig oder rebellisch daher kommt. Wie gesagt, das Interview. Es geht um die Neuerscheinung seines Buches „Motörhead“. BÄM! Next Hit! What the fuck? Charly Hübner hat ein Buch über Motörhead geschrieben? Warum? Wieso? Warum jetzt? Ich bin verwirrt, aber voller Vorfreude. Noch während ich das Interview lese, bestelle ich das Buch. Ich meine, jetzt mal ehrlich, wenn sich zwei Kometen solchen Kalibers in meinem Universum kreuzen, dann heißt es handeln.
Nur wenig später, der deutschen Handelslogistik ein dreifaches Hoch, ist das Buch da. Mit kindlicher Vorfreude öffne ich die Verpackung und erlebe meine erste Enttäuschung. Aus dem Schuber plumpst ein kleines Buch, nicht mal halbes DIN A4-Format! Sorry, party people in the printhouse – das ist für mich kein Buch!
Okay, ich trinke den ersten Whiskey (bis zu seinen 70ern hat Lemmy angeblich täglich eine Flasche Jack Daniels getrunken. Danach stieg er seiner Gesundheit zu Liebe auf Wodka um), es ist Wochenende, Samstagmorgen – da geht das, um den ersten Frust zu überwinden. Da wird ein Buch über die absolute Top-Elite des Rock’n’Roll geschrieben und du bekommst so ein Format? Wer will denn das? Minimum normale Taschenbuchgröße hätte ich da erwartetet.
Der zweite Tiefschlag ist die optische Aufmachung! Nicht nur, dass man Autorname und Bandname, schwer leserlich, gekreuzt hat, NEIN, das Buch hat einen blauen Hintergrund! Ich dachte schon, ich lese ein Buch über Ozeanologie!!! Für ein Buch über Motörhead gibt es nur eine Farbe! Schwarz. Das ist ein Statement! Und wenn nicht schwarz, dann dunkel-grau. Aber nicht ein beruhigendes Blau – sorry, geht gar nicht.
So läuft ein zweites Glas bernsteinfarbener Whiskey durch meine samstagmorgendliche Kehle und stimmt mich ein wenig milder.
Ich beschäftige mich ein wenig mit dem Büchlein. Schon das zum Lesen in der Hand halten ist in dem Miniformat eine Übung für sich. (Anmerkung des Autors: evtl. erste Einflüsse des Alkohols?) Auf den vorderen Seiten wird einem dann noch mehr Lesespaß versprochen, wenn man auf eine Verlagsseite wechselt und sich dort eine Playlist beim Lesen anhören soll. Mmmh? Was soll das jetzt wieder? Ich folge dem Link und lande bei der Spotify-Liste zum Buch. Heißt also, ohne Spotify, keine Playlist. Sehr gut. Was glauben die Verlagsleute, wie viel Prozent der „wahren“ Motörhead-Fans Spotify haben? Ich meine, nette Idee, dass Musikgut eventuell weiter zu streuen, aber für mich Thema verfehlt, zu dem sich in der Liste so Songs finden wie „Midnight Lady“ von Chris Norman oder „Africa“ von Rose Laurens. Ich erwähne aber erfreut, dass sich dort auch andere Künstler des Genres finden, wie Metallica, AC/DC, Bon Jovi etc. pp. Trotzdem, in einer Kathedrale für Motörhead haben angeführte Künstler nichts verloren. Kommt mir nicht mit Vielseitigkeit und Toleranz.
Also, ihr ahnt es, der dritte Shot wird geleert und ich atme erst mal tief durch und überlege ernsthaft die Rezension wieder abzugeben. Dann aber kommt mein Kämpferherz durch und ich denke mir, für alle diese Tiefschläge ist ja eventuell mein Held Charly Hübner gar nicht verantwortlich und die Jungs von Motörhead mal zweimal nicht. Ich stelle den Whiskey zur Seite und beginne zu lesen!
https://youtu.be/eBIa0o36pPo
Vorneweg zum Handwerklichen: Charly Hübner schafft es im Kopf des Lesers, also bei mir, ein echtes Entertainment zu erzeugen. Soll heißen, er schafft es mit seiner Schreibweise Bilder der Band in den Kopf zu setzen (Wie das bei Leser*Innen funktioniert, die keinerlei Bezug zur Band haben?). So zieht Charly Hübner nette Vergleiche an, um die Pole der Jugendzeit und der britischen Hardrock-Band zu beschreiben. Mein Lieblingsvergleich ist: „Es fühlt sich an, als würden wir einen Hochofen in eine Kleingartenanlage stellen:“
Das Buch beginnt mit einer Party, die schon längst zu Ende ist, aber noch mal kurzzeitig in Schwung gerät, da der Song „Ace of Spades“ final noch sieben mal aus den Boxen erklingt und die Lebensgeister erweckt. Alleine die Beschreibung der Szene setzt gleich ein ganzes Kopfkino bei mir in Bewegung und bestätigt wie fein und detailliert der Autor Charly Hübner hier zu Werke geht.
Selbstverständlich wird dieses Buch autobiografisches Material enthalten. Sehr schön, wie die Beschreibung, wie die allwöchentliche Familienausfahrt mit dem Erbrochenen von Charly Hübner endet. Aber genau in diesen liebevollen Beschreibungen liegt der Reiz des Buches und die literarische Qualität. Um in seiner Jugendzeit zu reflektieren, benutzt Charly Hübner einen überraschenden und intelligenten Kniff. Der Teufel namens Memphis reist mit ihm in die jeweiligen zeitlichen Ebenen zurück und ist immer wieder sein Dialogpartner für anregende Gespräche im Kontext der damaligen Zeit in Mecklenburg-Vorpommern.
Inhaltlich läuft das Buch dann so, wie man es sich fast denken kann. Trotziges Kind hat die sonntäglichen Autofahrten mit James Last-Begleitung total über und findet in Lemmy Kilmister seine Identifikationsfigur. Logisch, das so etwas die Befreiung gegen den Alltag in der DDR bedeutet. Viel mehr, als ich Wessie mir das vorstellen kann. Lemmy Kilmister, der leider 2015 verstorbene Leader von Motörhead, war Everybody’s Darling. Selbst bei Harald Schmidt durfte Lemmy zweimal aufspielen. Im Bereich der härteren Gangart des Rocks war Lemmy einer der, wenn nicht, die Identifikationsfigur. Eben ein richtiger Lieblingsonkel. Der Grund ist einfach: Lemmy war offen und ehrlich, immer authentisch und hatte seinen eigenen Willen. Damit ist klar, dass er bis heute junge Menschen, speziell Männer, anspricht.
Vom Text habe er nichts verstanden, schreibt Charly Hübner. Dafür hat sein Teenagerherz umso mehr gesprochen. Das war der Anfang einer großen Liebe. Über den Beginn und die Entwicklung dieser Liebe in den Achtzigern in Mecklenburg-Vorpommern, die Einflüsse des Songs „Ace of Spades“ auf sein Schauspielerleben mit Höhen und Tiefen und dem Höhepunkt. Ein lang ersehntes Interview mit dem Gandalf des Rock’n’Rolls, Lemmy Kilmister, persönlich im Zentrum des Heavy Metal, in Dezibel-City: Wacken, das beinahe stattgefunden hätte.
Das Buch ist eine Fotokiste. Voller Erinnerungen, peinliche und lustige Momente eines Lebens und das nicht unbedingt linientreue Leben, für das Lemmy Kilmister immer ein paar Weisheiten parat hält. Charly Hübner vergleicht Lemmy Kilmister mit Charles Bukowski, da beide Klartext schreiben. Im Falle des Autors hat es in der DDR geklappt, mit Motörhead hat es nicht geklappt. Das tut der Liebe von Charly Hübner keinen Abbruch.
Ich finde Charly Hübner hat absolut erzählerisches und literarisches Talent. Einmal in das Buch eingetaucht, liest man es auch zu Ende, denn es sind ja nur 161 kleinformatige Seiten. Es ist sein erstes Buch und er schafft es mit so viel Herzblut über Motörhead zu schreiben, dass man sich an vielen Stellen gerne an die rebellischen Phasen der eigenen Jugend erinnert. Soweit ich gelesen habe, ist Charly Hübner dabei eine TV-Serie über Wacken ins Leben zu rufen. Man sieht, der Kerl ist ein echter Desperado. Ich werde ihn als Kommissar in „Polizeiruf 110“ demnächst mit anderen Augen sehen. Ich bin immer noch hin und her gerissen, ob ich das Buch empfehlen soll oder nicht. Inhaltlich hat es Charly Hübner auf jeden Fall verdient. Entscheidet selbst. Statt der Playlist empfehle ich euch einen Blick in den Rolling Stone zu werfen und das Interview ergänzend zu lesen.
„…And don’t forget the Joker!“