Sie haben die Neunzigerjahre im Punk & Feminismus geprägt und Punk & Feminismus haben sie geprägt: BIKINI KILL!
Am 08.06.2024 war das Auftaktkonzert in Berlin zur Europa-, US- und Canada-Tour 2024 von Bikini Kill. Dies ist nicht nur das erste, sondern gleichzeitig das einzige Konzert in Deutschland auf dem Europa-Teil der Tour, der sportlich innerhalb einer guten Woche mit 7 Terminen gespickt wurde.
Dänemark, Schweden, United Kingdom stehen ebenfalls an. Ausruhen können sich die Ladies dann im Juli, bevor es im August und September weitergeht mit 19 Terminen jenseits des Atlantik.
Es gibt ja auch etwas zu feiern! Es geht um Kathleen Hannas neuestes Werk und das sagt Drummerin Tobi Vail zwischendurch an. Exakt geht’s um Frontfrau Kathleen Hannas Buch-Veröffentlichung vom 14.05.2024 beim New Yorker Harper Collins Verlag mit dem Titel: Rebel Girl – My Life as a Feminist Punk. Zunächst in englischer Sprache, zu beziehen bei deinem Buchhandel des Vertrauens um die Ecke (liefert schneller als Amazon und Co., Trust me!). Es gibt das Buch auch, hier war Kathleen Hanna schnell, bereits als Hörbuch. Gut für alle, die drauf angewiesen sind. Es wird gelesen von der Autorin selbst und Kathleen macht hier einen guten Job, liest verständlich, unaufgeregt, trotzdem plastisch.
“A fantastic journey into an unconventional life, pulsing with raw energy and vulnerability that I witnessed firsthand. It’s honest, funny, witty, and smart. And most of all, it’s important to the herstory of Kathleen’s place in blazing new trails.” — Joan Jett
Darin kommen Kathleens privates Leben mitsamt glücklicher und traumatischer Erfahrungen vor, die Bandentstehung und der Zerfall von Bikini Kill, die spontane Anlaufstelle für sexuellen Missbrauch bei Konzerten, die Gewalt und der Hass gegen Feminismus, das Funktionieren auf Autopilot, die Jahre der Musik-Szene im US-Bundesstaat Washington, bzw. Seattle und Olympia, mit Freundschaften zu Kurt Cobain (30. Todestag 2024), Ian MacKaye, Kim Gordon, Joan Jett und ihrer dauerhaften Liebesbeziehung zu Ad-Rock, immer im Blick die Riot-Grrrl Bewegung und ihre persönliche Perspektive darauf, nicht zuletzt erzählt sie über ihr Abmühen wider einem weißen Feminismus. Eine reichhaltige Skizze der FLINTA-Bands und Aktivitäten im Kunst- und Musikspektrum der Neunzigerjahre. Dazu viele Bands, Songs und eine 6-Stunden Playlist auf Spotify. Wow!
Ich werde später noch auf das Buch zurückkommen, denn natürlich begleitet diese Lebenserfahrung uns auch auf dem Konzert der 1968 in Portland, Oregon, geborenen Sängerin von Bikini Kill. Es ist ein Buch ums Kämpfen, ums Überleben, ums Singen, ums Lieben, ums immer wieder neugeboren werden, um die Kraft, sich zu heilen und zu retten. Natürlich auch die extended Version aus Papier zum Doku-Film „The Punk Singer“ aus 2013, möchte ich meinen, mit vielen Details und zehn Jahren plus. Ich kann’s nur empfehlen!
Wir blicken heute in Berlin also auf Jahrzehnte Rebel Grrrl und Kathleens persönlichen Anteil am Feminismus im Punk zurück, der sie wohl manchmal unfreiwillig zur Ikone einer ganzen Bewegung werden ließ. Mit all seiner Gegengewalt und überbordendem Lob brach es damals über sie unvorbereitet herein.
Das Konzert findet in der Columbiahalle statt, weil es aufgrund der Nachfrage aus dem kleineren Astra verlegt wurde. Einlass 19:00 Uhr. Als ich bereits um 18:30 Uhr den Saal betrete, sind schon einige Leute dort. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich erkenne hauptsächlich Zuschauerinnen. Jawohl, ihr habt richtig gelesen! Ein paar Zuschauer sind auch mit dabei, sehe ich dann. Den Ruf „Girls to the front!“ braucht Kathleen demnach heute nicht, um diese in die erste Reihe zu holen, denn sie sind schon da. Später stehen sie dicht gedrängt bis vorne an die Absperrung und oben auf dem Rang bis nach hinten in den Saal. Bin ich eher nicht vom Durchschnitts-Publikum für Punk & Rock gewohnt.
Die Fans sind vom Alter her überraschend jung, ich schätze mal U-30. Darüber ist auch jedes Alter vertreten bis zur toughen 70. Geschminkt, ungeschminkt, im Minirock, mit hohen Stiefeln, mit Sneakern, Boots, Jeans und Shirt, lange Haaren, kurze Haaren, mit oder ohne Tattoo, verheiratet, ledig, queer, hetero… tja, wie sieht sie denn jetzt eigentlich aus: Die Feministin? Ich löse auf: Es gibt sie nicht, die Blaupause, die Stereotype. Sorry, das ist Quatsch! Und auch Kathleen hat hier immer wieder genau das vorgelebt, ist dafür unbewusst oder bewusst eingetreten, angefeindet und geliebt worden. Keine Schublade, keine Uniform!
Und da treten sie auch schon auf die Bühne, selbstbewusst im eigenen Style verankert. Vier gestandene Frauen über fünfzig, mit Lebenserfahrung, Selbstbewusstsein und Coolness.
Am Mic: Kathleen Hanna!
An der Gitarre: Sara Landeau (The Julie Ruin) für Erica Dawn Lyle!
Am Bass: Kathi Wilcox!
Am Schlagzeug: Tobi Vail!
Jede spielt in unterschiedlichen Bandprojekten oder ist aktiv als Autorin, Zine Maker, Artist und so ultravielseitig, wie es der eigene Wunsch nur sein, denn: Double Dare Ya, Girl!!!!
Ich kaufe ihnen das Double Dare Ya ab. Und sie beweisen es allen, haben stolz den DIY as F*ck Charakter erhalten. Warum sollte Tobi nicht singen, Bass oder Gitarre spielen, Kathi dazu an die Drums oder die Gitarre, dann Kathleen an den Bass und Sara an die Drums? Sie ziehen es durch, rotieren immer wieder neu die Instrumente während des ganzen Set’s. Kathleen Hanna ist gar nicht die Frontfrau. Jetzt ist es gewiss: Auf der Bühne stehen vier Frontfrauen! Jede für sich, alle gemeinsam für dieses Konzert, diese Band, diesen Spirit.
Aber klar, Kathleen tanzt über die Bühne wie ein Wirbel, moduliert mit Freude die volle Range ihrer Stimme von cute Mouse bis grumpy Oger, ansonsten Gesang wie gehabt, Show kann sie einfach. Professionell und gutgelaunt, DIY und ernsthaft. Die volle Power fegt über uns weg, lässt nicht erahnen, welche Odyssee Kathleen mit ihrer Gesundheit hinter sich hat. Von außen kann man es nicht sehen, so eine tückische Krankheit wie MS oder Lupus, mit deren Verdachtsfall sie sich konfrontiert sah. Am Ende die finale Diagnose: Lyme Disease. Nicht minder tückisch und ein fettes Brett.
Es ist nicht umsonst, dass ich nicht einfach nur einen Konzertbericht schreibe, sondern dies in meine Diversity Dive Reihe aufnehme. Chronische Erkrankungen und Behinderung sind definitiv ein Thema darin. Ich kann es so gut verstehen, wie schrecklich es ist, jahrelang nicht richtig diagnostiziert zu werden. Das bedeutet Unsicherheit und keine Idee, wo man ansetzen muss für die Heilung. Hier komme ich, wie versprochen, wieder zum Buch zurück: Ihre neurologischen Ausfälle wie Sprachfindungsstörungen, Gesangsprobleme und andere Symptome zwangen Kathleen letztlich, das Singen aufzugeben und ihr Elektropunk Feminist Bandprojekt „Le Tigre“ auf Eis zu legen. Für immer? Sie war überzeugt, niemals wieder auf der Bühne stehen zu können.
Und da ist sie nun, eine Bandgründung mit Alter Ego The Julie Ruin weiter, lässt sich äußerlich nichts anmerken, aber hat es sicher nicht vergessen. BÄM! Sie ist wieder zurück, auch mit Bikini Kill und Le Tigre.
Im Buch hat sie alles sehr genau und offen beschrieben, das ist gut und mutig, da es viele Menschen gibt, die sich damit identifizieren können. Auch hier nimmt sie kein Blatt vor den Mund, das hat sie noch nie getan. No matter what! Genau das macht sie neben einer großartigen Rock-Ikone zur Vertrauensperson, zur Seelsorgerin, zur Verbündeten für die Verletzten, gibt Antrieb nachzuahmen, nicht zurückzuweichen vor den Up’s and Down’s im Leben.
Und dann kommen die Messages zwischen den Songs an alle im Saal:
„So many women in my family give up there dreams to take care for others. Caregivers of the world I love you. Take care for yourself. We need you. If you’re burnt out: Stop.“
Und nach einem anderen Song macht sie Mut. Es sollte nicht nur für Kinder aus reichen Familien die Möglichkeit bestehen, mit Musik erfolgreich zu werden:
„People who want to be in a band. Have Trust! The World needs you!!! We have to support our local scene.“
Ja, sie sind politisch.
Es wäre nicht Bikini Kill, wenn nicht eine weitere Ansage erfolgen würde:
„We should be able to go anywhere and buy some snacks and dance on the streets, no matter which neighbourhood. No matter which gender, skin color, sexuality. Non of your business! How it is like, people calling on you all the fucking time. White men, tell your fucking friends, to knock off.“
So oder so ähnlich habe ich es mir notiert, das sind keine 100% Zitate, sondern Gedächtnisprotokolle von dem, was ich verstanden habe und das war nicht immer einfach bei dem Geräuschpegel.
Dann als Zugabe kommt er endlich, der schon vom Publikum heiß ersehnte Song „Rebel Girl“, denn die Menge tanzt wie wild und gönnt sich den Kick.
Zum Abschluss im Bericht heute die Vorband aus Melbourne, Australien, die Bikini Kill für insgesamt drei Gigs in Europa begleiten: Tropical Fuck Storm! Diese Wahl kann ich wirklich gut nachvollziehen. Vor uns spielt eine Supergroup aus Gareth Liddiard, Fiona Kitschin, Lauren Hammel und Erica Dunn. danke dafür, Bikini Kill.
Genre: Art Punk, Experimental Rock, Noise Rock, Psychedelic Rock, Post-Punk, Punk Blues. Das Wort Storm passt hier schon sehr perfekt, die anderen Wörter eigentlich auch, OMG! Voll Inbrunst werden gezielt Misstöne gesetzt, der Takt strauchelt elegant regellos, fängt sich wieder. Es wird experimentiert mit ungewohnten Tönen und expansiver Länge. Ich düse auf einem bunten, fliegenden Flickenteppich aus Sound durch den tropischen Rock-Wirbelsturm. So ungewohnt, so unkonventionell, so schön so süchtig machend.
Alles Menschen, die in mehreren Bandprojekten, teils auf verschiedensten Instrumenten spielen. Sie haben mich definitiv mit ihrer langatmigen Power überzeugt. Die Songs gehen so ineinander über, dass ich teilweise kaum merke, wo sie anfangen oder enden. Beeindruckend fand ich die Performance von Erica Dunn mit Keyboard, Gitarre und Gesang. Ich habe WOHL ein bisschen mit der Kamera an ihr geklebt, weil sie so toll ist. Aber schaut selbst. Die Bilder von Tropical Fuck Storm (Link zu ihrem genialen Art-Musik-Video) können für sich alleine sprechen, ohne Text.
Die Columbiahalle Berlin hat in Puncto Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrende einen separaten Eingang und eine Tribüne mit Rampe vorne seitlich vor der Bühne bereitgestellt. Die Sicht war von dort durchaus gut und die Sanitäter und Fotografierende ebenfalls dort, weshalb ich quasi diesen Bereich mitgenutzt habe und das beurteilen mag. Aufgrund meiner chronischen Erkrankung durfte ich nach der Fotosession spontan dort bleiben während des Konzerts. Thanks! Angenehm aufgefallen ist mir, dass die Rollitribüne so in der Höhe angelegt war, dass es mir möglich war, entspannt vor der Tribüne stehend (auch vom Konzertraum aus), ein Gespräch auf Augenhöhe mit Personen im Rollstuhl auf der Tribüne zu führen. Also kein komplett abgeschottetes, schwer erreichbares Separee. Während der Veranstaltung durften Freunde / Begleitpersonen mit auf die Tribüne. Diese durfte auch während des Konzerts verlassen werden und bildete keinen fixen Standort für die Nutzenden, die sich frei bewegen durften.
Warum ich das alles erwähne? Nun, dies ist durchaus nicht immer so positiv. Ich finde es wichtig, an dieser Stelle für Sichtbarkeit zu sorgen. (Siehe Vinylkeks Interview-Reihe Musinclusion)
Mein Dank geht an Puschen für das Booking und den Fotopass.