Waiting, waiting for Life!
Zusammengekrümmt auf dem Rücken liegt sie da, eine mit weißen Umrissen in den schwarzen Untergrund gekratzte Hornisse mit kleinen Totenschädeln als Panzermusterung. Ihre Haltung hinterlässt Zweifel in dem, was ich hier sehe. Liegt diese Hornisse irgendwo tot in der Ecke oder ist sie gerade im Begriff ihren Stachel auszufahren? Genau diesen Kontrast, dessen Stimmung die des Albums “Waiting for Life” von Dividing Lines so gut widerspiegelt, hat der Leipziger Künstler Philip Janta (Janta Island) hier so genial eingefangen, der unter Anderem auch schon für Metallica aktiv war. Konsequent findet sich hier die Düsternis wieder in der totalen Abstinenz von Farbe. Das Vinyl, das Cover, das Sheet mit Lyrics und verwischtem Foto von Dividing Lines – ja, das komplette Gesamtpaket ist in Graustufen und schwarz-weiß gehalten.
Aber halt! Etwas fällt aus der auf rohem Karton gedruckten Plattenhülle zu Boden, als ich die LP herausziehe. Seine aufblitzende Knallfarbe leuchtet wie eine Hornisse in Schwarz-Gelb auf: Es ist ein „Refugees Welcome“ Aufkleber vom Label Plastic Bomb Records beziehungsweise vom Plastic Bomb Shop. Denn Politics & Punk mischen sich hier ein in den Sound von Death-Rock, Wave- und elektronischen Klängen. Neben Melancholie können Dividing Lines eben auch stachelige Sozialkritik.
Ich verstehe, die Hornisse ist nicht tot, sie krümmt sich so, weil sie spannt sich gewaltig an, um zu einem richtig starken Stich anzusetzen, der ein ganzes Pferd umhauen wird. Und diesen Stachel brennen Dividing Lines als Kritik z.B. mit „Empty Shells“ dem Mainstream oder mit „Die Alone“ dem Patriarchat ins Fleisch. „Nomophobia“, „Waiting for Life“ und „Alone in the Dark“ zücken den Stachel gegen die Hörenden selbst und lassen sie die ganze Oberflächlichkeit, Einsamkeit und Verzweiflung spüren, von Bildschirmsucht bis zu unerfüllten Träumen. Feeling it!
Der Song, der mich persönlich aber am meisten packt, ist „Dance“. Eine krass treibende, wavige Soundkulisse mit elektronischen Effekten. Klar mag ich The Cure, sicher bin ich auch ein Abrissstadt-Punk-Tekkno-Kid aus dem Berlin der Neunziger, an das ich im heutigen Leipzig immer so heftig sehnsüchtig denken muss. Im Song bricht die ganze anfängliche Darkness auf und wird zerschmettert durch powervolle Positiveness. BÄM! Als ob am dunkelgrauen Gewitterhimmel die Wolkendecke aufbricht und ein gleißender Lichtstrahl Maries Stimme wird. Die Gitarrensounds ringen mit Elektronika, es kratzt und klingelt, voll Ekstase kann ich mich hier freitanzen von sämtlichen Sorgen. Alles ist im Strudel, die Töne beißen sich, die Harmonien ringen miteinander, ich werde vielleicht zum Teletubby (wo wir jetzt schon mal bei den Neunzigern waren, entsetzlich, haha) und stolpere möglicherweise demnächst glückstrunken über diese fremdartig grellgrüne Hügellandschaft, während Marie durch ein Megafon als diese komische Babyface-Sonne zu mir spricht. A deep and gloomy tubby-happy nightmare. Ich will tanzen, tanzen, wie blöde. Jawoll. Don’t stop, take away the darkness! Dieser Song ist quasi das geheime Antidote des Albums. Endorphine durch Dark Chocolate, ohne sich dabei selbst zu verraten.
Aber nun noch einmal zurück zum Anfang und die Nadel beim Intro aufgesetzt. Der Anfang lohnt sich näher zu beschreiben, denn ich finde ihn zwar komplett anders, als die meisten post-punkigen Sounds auf der Platte, aber absolut passend und perfekt stimmungsaufbauend für das, was kommen wird. Gleich die ersten Töne schweben im elektronischen Gewand daher. Sie überraschen und erinnern mich an… Tempelmusik? Uhhh, das klingt bedrohlich und beengend. Der Drum-Rhythmus setzt majestätisch ein, zieht an, wird schneller. Die Enge weicht jetzt durch die Geschwindigkeit dem weiten All, der Tempel wird zum Raumschiff der kriegerischen Borg. Das Tempo wird weiter gesteigert, wir streben gen Lichtgeschwindigkeit durchs finstre All auf einem Tekknolichtstrahl. Gebt uns eine Laserkanone, gebt uns Nebel! Dann kommt die Zäsur. Kurzes, scharfes Luftanhalten. Knack! Gewaltig brechen die kreischenden Gitarren und der treibende Bass über uns Hörende herein, verbannen die Cyborgs. Maries Stimme, dunkel und bittersüß zugleich, reißt uns davon in einem Wirbel aus schnellen Drums, Rockgitarren und -Bass. Für einen Wimpernschlag spiegelt sich zu Maries Gesang „Stargazer” von Siouxsie & The Banshees, versinkt aber sogleich wieder. War wohl doch nur der Spaceship-Nachhall aus dem Wurmloch, mehr nicht.
Denn Marie singt zwar ebenfalls wie Siouxsie einen prägnanten Alt, hat aber eine unverwechselbare, einzigartige Stimme, die noch einen ganzen Zacken rauer klingen kann. Sie hat sich seit den gefeierten Vorgängeralben „Wednesday/6pm“ und „GONE“, die beide ebenfalls auf Plastic Bomb Records erschienen sind, sogar noch gesteigert und balanciert locker die Vielschichtigkeit aus Punk und der ureigenen Düsternis. Der Besatzungswechsel um die Mitglieder war der Weiterentwicklung absolut kein Hindernis. Erich am Bass plus Co-Gesang ist mit Marie der solide Kern der Band. Dazu haben sich Chris am Schlagzeug und Benni an der Gitarre eingespielt, als hätten sie schon immer in dieser Konstellation bestanden.
Tell Me A Story – vom ersten Album, Wendnesday/6pm
Live ist die Band auch absolut sehenswert. Sie blicken inzwischen auf fast 150 gespielte Konzerte in 13 Ländern zurück. Als Heimspiel in Leipzig im Bandhaus habe ich mir dieses Jahr auch schon einen Auftritt von Dividing Lines mit Horror Vacui und Kadeadkas reingezogen und kann nur sagen: Holt euch ein Ticket, wenn Dividing Lines in eure Stadt bei ihrer derzeitigen Tour mit [di: unru:] kommen. Für das nächste Konzert in Leipzig mit Infant Sanchos am 30.10.2023 gibt es hier Tickets.
Und hier im Plastic Bomb Shop könnt ihr die LP kaufen.