Es ist Ende Mai, später Vormittag. Ich treffe Jenny Rossander, alias Lydmor, über Zoom zum Gespräch. Sie sitzt auf dem Bett in einem dänischen Hotelzimmer, mit locker gebundenen Haaren, ungeschminkt, mit wachem Blick. Die 31-jährige Dänin ist eine wahre Tausendsasserin – Denn sie ist Sängerin, Songwriterin, Produzentin (sie hat im März das Album “Capacity” veröffentlicht – hier gibt’s die Review), Schauspielerin, Multiinstrumentalistin, Autorin – Und bestimmt noch mehr. Das ist beeindruckend. Ich bin deshalb gespannt, wie sich das Gespräch mit ihr anfühlen wird. Und soviel vorweg: Sie hat eine gewisse Künstlerattitüde, aber auf eine sehr angenehme, menschliche und zugewandte Art. Sie spricht mit mir darüber, was sie alles in ihrem vollen Terminkalender unterbringt, was Feminismus für sie bedeutet und wie sie sich selbst das Produzieren beigebracht hat.
Hallo Jenny, wie geht es dir?
Gut, danke. Ich hänge gerade in einem Hotelzimmer rum. Das fühlt sich irgendwie sehr wie das Leben vor der Apokalypse an. Ich hab gestern eine Show gespielt.
Wo denn?
Ich bin in Aarhus (Dänemark) und spiele sogenannte Residenzkonzerte. Das heißt ich spiele dort jeden Tag in der gleichen kleinen Bar für jeweils fünfzig Leute. Es ist schön. Ein bisschen wie Ferien.
Oh, das geht schon wieder? In Dänemark habt ihr wohl schon einige Freiheiten ? (Anmerkung: Das Interview haben wir im Mai geführt)
Ja, wir hatten einen harten Lockdown von Dezember bis April, da war alles geschlossen. Aber jetzt sind viele Menschen schon geimpft, somit gibt es Lockerungen und vieles öffnet wieder. Aber die Festivals für den Sommer wurden alle abgesagt.
Wie hat es sich bei deinem ersten Auftritt nach dem Lockdown angefühlt, wieder auf der Bühne zu stehen?
Das war die pure Freude. Und so viel Dankbarkeit dafür, dass ich den Moment mit anderen Menschen teilen durfte. Wobei ich ja wirklich gut dran war, denn auch während des Lockdowns hatte ich sehr viel zu tun. Ich habe Soundtracks für Filme und Serien geschrieben, ich habe meine Radiosendung gemacht und so weiter. Ich hatte verdammt viel zu tun. Aber ich habe fast diese Version von mir vergessen, die nur auf der Bühne existiert. Dieser zufriedene Moment, wo sie einfach weiß, was sie tut und loslegt. Es war schön, mit ihr mal wieder ein bisschen rumzuhängen.
Wie sind die Tage denn sonst für dich? Was tust du wenn du nicht gerade im „Urlaub“ bist?
Ich hatte viele Projekte, also sind meine Tage meist sehr durchgetacktet, damit ich alles, was ich machen möchte, schaffe. Ich mache gerade den Soundtrack für einen Film fertig. Die Regisseurin ist sehr sehr talentiert, sie inspiriert mich sehr. Da gibt es für mich nur noch kleine Details zu tun. Außerdem komponiere und produziere ich den Soundtrack für eine Fernsehserie („Fantomforhold“ von Rikke Kolding). Da probiere ich gerade aus, welche Sounds passen könnten und schicke viele Demos zur Regisseurin. Und ich lese immer und immer wieder das Manuskript, um mich in die Geschichte und die Figuren reinzudenken. Und dann moderiere ich ein Mal die Woche eine Radiosendung im dänischen Radio, wo ich die Natur der Kreativität erkunde. Jede Woche interviewen wir eine*n Künstler*in oder Wissenschaftler*in oder ähnliche Leute. Wir sprechen dann darüber, wie es ist, kreativ zu arbeiten, dass dazu auch Unsicherheit und Angst gehört und was die Kreativität beeinflusst. Dafür nehme ich mir viel Zeit. Und ich lese auch viele Bücher und schreibe meine eigenen Songs.
Lass uns über dein Album „Capacity“ sprechen. Das ist ja sehr erfolgreich in Dänemark. Welchen Song des Albums magst du am liebsten?
Ich glaube nicht, dass ich einen Lieblingssong aussuchen kann. Dann hätte ich das Gefühl, ich würde an den anderen Songs Verrat begehen. Ich bin auf alle Songs sehr stolz. Es ist das Album, mit dem ich am meisten zufrieden bin. Jedes Detail ist genau so, wie ich es wollte.
Wie sind die Songs auf „Capacity“ entstanden? Du bist ja Multiinstrumentalist. An welchem Instrument zum Beispiel entstehen deine Ideen zuerst?
Das ist mit jedem Song völlig unterschiedlich. Manchmal sitze ich auf dem Rad und habe plötzlich eine Songstruktur im Kopf, manchmal am Klavier, manchmal fällt mir ein Beat ein, wenn ich zum Beispiel gerade total wütend bin. Wie ich das Album geschrieben habe ist darum eine zu allgemeine Frage.
Was brauchst du, um kreativ zu sein?
Ich interessiere mich sehr für Kreativität und sie ist eine so komplizierte Sache. Denn meine Radiosendung, die ich jede Woche mache, dreht sich ja darum. Wir sind da immer noch auf der Suche und versuchen immer noch, die Natur der Kreativität zu verstehen. Wir haben Autor*innen, Musiker*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen interviewt und uns mit der Frage beschäftigt, was es bedeutet, kreativ zu sein. Wie dieser Prozess funktioniert von “nichts ist hier” zu “etwas ist da”. Ich bin Vollzeitkreative, ich kreiere Dinge für mich und für andere, wie Theaterregisseure und ich arbeite auch mit vielen anderen Künstlern zusammen. Für mich ist das mein Leben. Es ist wichtig, sich die Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Kreativität zu stellen. Ich lebe sehr bewusst. Ich lese viel Literatur, denn ich hoffe, wenn ich gutes Zeug in meinen Kopf lasse, dass dann vielleicht auch gutes Zeug rauskommt. Ich lese viele Klassiker wie Dostojewski, Proust, Hemingway. Ich lese aber auch neuere philosophische Bücher, zum Beispiel Donna Haraway. Ich denke über die Welt nach. Ich lese das nicht alles und denke, so jetzt rein damit ins Album, ich denke eher, dass es mein Bewusstsein verändert und dass es mir ermöglicht, gedanklich an andere Orte zu gehen. Das ist meine komplizierte Antwort auf deine Frage.
Welche Rolle haben denn Musik und Kreativität in deiner Kindheit gespielt? Waren deine Eltern auch Künstler?
Ich komme aus einem konservativen Elternhaus. Meine Mutter war allerdings das schwarze Schaf der Familie. Sie ist eine Künstlerin und eine abgedrehte, wilde Frau. Allerdings sind die Leute in meiner Familie alle sehr herzlich. Und das ist sehr schön. Und niemand von ihnen ist von Beruf Künstler*in. Meine Mutter auch nicht, sie hat es versucht, daraus wurde dann aber doch nichts. Mehrere Cousinen von mir haben einen Doktortitel – meine Schwester ist Physikerin, meine Cousinen sind studierte Wirtschaftswissenschaftlerinnen. Sie sind also alle sehr intelligente, gebildete Frauen. Und ich bin die einzige mit zotteligem Haar auf den Familienfeiern, weil ich einen Abend zuvor einen Auftritt hatte und vielleicht rieche ich auch noch etwas nach Alkohol. Und sie akzeptieren, dass ich so bin. Wir haben alle klassische Instrumente gespielt, als wir Kinder waren. Mein Großvater hielt das für einen wichtigen Teil der Erziehung. Ich habe Klarinette gespielt und mit 14 oder 15 habe ich angefangen, zu singen. Und als ich damit angefangen habe, wusste ich sofort: Okay, das werde ich in meinem Leben machen.
Bist du zur Musikschule gegangen oder hast du dir alles selbst beigebracht?
Um Klarinette zu lernen bin ich sieben Jahre zur Musikschule gegangen. Das ist aber auch das einzige, das ich von einem Lehrer gelernt habe. Dann auf der Highschool hatten wir Musikunterricht. Aber ich bin nicht zur Musikhochschule oder sowas gegangen. Ich hatte mich beworben, als ich 18 war, wurde aber nicht angenommen. Ich habe aber jetzt dort unterrichtet. (lacht) Aber Singen, Komponieren, Produzieren, Mixing, Mastering und so weiter habe ich mir selbst beigebracht.
Wie denn? Mit YouTube-Videos?
Ja.
Wow.
Ich google „Wie macht man einen Beat“ und dann fang ich an zu lesen und Tutorials zu gucken. Bis heute schaue ich sehr viele Youtube-Tutorials zum Thema Musikproduktion. Denn die ist endlos komplex. Und da kann man immer was Neues lernen. Das Geheimnis des Equilizings oder das Geheimnis der Kompression oder wie legst du eine Basslinie über die Kickdrum und wie machst du den Rhythmus richtig cool. Da gibt’s so viele Informationen und ich lerne immer weiter.
Du arbeitest oft mit verschiedenen Künstlern zusammen. Was geben dir diese Kooperationen?
Es ist doch einfach schön, ein paar Leute um sich herum zu haben oder? (lacht) Ich habe großes Glück, denn viele sehr nette Leute arbeiten mit mir zusammen und ich kann mir aussuchen, mit wem ich was mache. Ich sage nicht zu allem und jedem ja. Das mache ich nur, wenn ich es wirklich wirklich liebe. Ich bin sehr froh dieses Privileg zu haben. Das heißt, dass alle Leute mit denen ich arbeite, zum Beispiele die Regisseure von Filmen und Serien oder die Choreographin des Tanzstückes, das ich entwickelt habe, Leute sind, die ich kreativ gesehen immens liebe. Diese Menschen haben irre Ideen. Ich könnte die ganze Zeit dasitzen, sie ansehen und sagen: Wow, das ist so wundervoll, was in deinem Kopf entsteht. Von jedem habe ich so viel gelernt.
Du sagst über dich, dass du eine Feministin bist. Was bedeutet das für dich persönlich.
Bist du eine Feministin?
Ja, ich denke schon.
Du denkst schon. Es ist lustig. Vor allem in Deutschland, meine Güte, habe ich viele Leute getroffen, die, wenn ich ihnen sage, ich bin Feminist, erstmal geschockt gucken und auf Abstand gehen. Oh Gott, das ist wie in den Fünfzigern. Für mich hat Feminismus damit zu tun, zu verstehen, dass es immer noch Unterdrückung gibt. Und dass wir alle in uns diese unsicheren Denkmuster haben. Es würde mir schwer fallen, mich nicht für den Kampf gegen Unterdrückung zu engagieren. Ich bin Botschafterin für die Organisation Key Change, eine internationale Organisation. Viele andere Künstlerinnen sind dort auch Botschafterinnen. Deshalb bin ich froh, dass sie mich ausgewählt haben. Wir machen viel, um die Situation für Frauen in der internationalen Musikindustrie zu verbessern. Ich versuche, eine intersektionale Feministin zu sein. Das bedeutet, dass man sich auch für die Rechte von People of Colour und von geschlechtsbezogenen Minderheiten einsetzt. Ich sitze also nicht hier mit meiner weißen Hautfarbe und sage (ruft und hebt die Arme): „Ich bin die am meisten unterdrückte Person der Welt“. Nein. Ich bin weiß und ich bin dünn. Und darum bin ich auch Teil eines Systems, das Leute unterdrückt, die das nicht sind. Sich dessen bewusst zu sein, ist für mich ein Lernprozess. Ich lese auch viele Studien und die sind immer sehr erschreckend. Da geht es darum, wie Leute mit Frauen umgehen – und zwar ziemlich scheiße. Und dass wenn eine Frau in einem Raum die Führung übernimmt, wir alle Angst bekommen. Wenn ein Mann die Führung übernimmt, fühlen wir uns gut aufgehoben. Der Grund ist, dass wir alle Gewohnheitstiere sind und es dauert lange, um diese Gewohnheiten zu durchbrechen. Ich versuche auf der Bühne eine Frau zu sein, die auch mal gewalttätig ist, auch mal grob, nicht die klassische höfliche und stille Frau, sondern anders. Ich beteilige mich auch an Debatten und vieles mehr. Es ist ein großes Thema und für mich sehr wichtig, Teil dieses Kampfes zu sein. Denn ich möchte, dass die Töchter dieser Erde eines Tages ein wenig freier leben dürfen. Wir haben die Illusion von Freiheit, aber wir haben keine Freiheit.
Ja, es wäre schön, wenn wir keine Feministinnen sein müssten.
Genau.
Es hat sich ja ein bisschen was geändert in den letzten 5 – 10 Jahren im Musikbusiness hinsichtlich Sichtbarkeit von Frauen aber es ist immer noch so, dass wenn man auf die Bühnen guckt, vor allem bei Festivals, man sehr wenig Frauen da oben sieht.
Ja, wir kriegen es mittlerweile hin, bewusst einkaufen zu gehen, aber da haben wir noch nicht genug Bewusstsein. Es ist ja so: Wenn eine Frau auf der Bühne steht, sagt man: “Okay, das ist divers”. (lacht) Sie ist dann aber die einzige Frau, die gebucht wurde. Und dann wird gesagt: „Nein, wir können nicht mehr buchen, wir haben doch schon eine Frau“. Und wir sagen: „Hey, von uns gibt es mehr als eine“. Aber einige Festivals machen das auch schon ganz anders. Hast du das „Primavera Sound“-Programm gesehen, das gerade veröffentlicht wurde?
Nein.
In Spanien findet das Festival statt und es ist verdammt nochmal ein 50:50-Programm. Das ist so großartig. Es ist ein megagutes Line-up für 2022. Ich denke schon drüber nach, da hinzugehen, weil es ein so cooles Line-up ist. Und es war kein Problem, es 50:50 zu machen. Wenn also das nächste Festival sagt: „Wir können es nicht 50:50 machen weil es zu wenige Frauen gibt“ – Bullshit!
Du wirst im „Berghain“ (Berliner Elektro-Club) auftreten und das ist etwas ganz Besonderes für dich. Warum?
Für alle Künstler*innen, die elektronische Musik machen, ist das Berghain legendär. Und ich spiele nicht in dem Techno-Club-Teil, sondern in dem Live-Musik-Teil. Denn ich mache ja kein Techno. Was ich mache ist emotionaler Pop, Avantgarde, wie auch immer man es nennen will. Das ist der Job der Journalist*innen. Aber trotzdem ist es eine große Sache für mich, für den kleinen Nerd in mir, der die Geschichte der elektronischen Musik respektiert. Und das Berghain ist Teil dieser Geschichte.
Welche Pläne hast du für die Zukunft?
Ich habe viele Pläne. Im Moment arbeite ich natürlich an einem Album, denn das tue ich eigentlich immer. Dann gibt es diesen einen Tag, an dem ich das Album veröffentliche und direkt beginne, an dem nächsten zu arbeiten. Ich bin auch an einer großen Theaterproduktion beteiligt, die nächstes Frühjahr aufgeführt wird, nämlich „Animal Farm“, basierend auf dem Buch von George Orwell. Ich werde da schauspielen, am Stück mitschreiben und die ganze Musik beisteuern. Darum habe ich jetzt viele Treffen mit dem Regisseur und dem Kostümdesigner und so weiter, zum Brainstormen. Wir wissen noch nicht, wie wir es genau gestalten. Das ist sehr aufregend. Der Film wird außerdem veröffentlicht. Darauf freue ich mich sehr. Es ist eine lesbische Liebesgeschichte, ein großes Projekt und so prachtvoll und speziell. Und ich bin sehr stolz auf die Musik, die ich dafür komponiert habe. Auch die Fernsehserie wird veröffentlicht, also vieles kommt an die Öffentlichkeit, an dem ich lange gearbeitet habe. Ich schreibe auch an einem Buch. Also einfach tolle Projekte mit tollen Leuten. Und ich freue mich so sehr darauf, wieder international auftreten zu dürfen. Mein Leben vor Corona bestand daraus, ständig an neuen Orten zu sein, das war immer ein großes Abenteuer. Ich muss aber sagen, es hatte auch was Gutes für meine Gesundheit, in einem Land festzustecken. Ich habe gelernt zu meditieren und Yoga zu praktizieren. Aber ich vermisse den Geruch des Fremden. Aus einem Flughafen zu kommen, tief einzuatmen und zu sagen: Oh, das ist ein neuer Ort. Und ich vermisse meine Fans – in Asien, in Deutschland. Ich habe festgestellt, dass ich sehr nette Fans habe. Sie sind süße, merkwürdige, unsichere und wunderschöne menschliche Wesen voller Liebe. Und ich bin immer so dankbar, sie treffen zu dürfen und mit ihnen zu sprechen. Und ihnen in die Augen zu sehen, wenn ich singe. Darauf freue ich mich.
Dann wünsche ich dir, dass du diese Shows bald wieder spielen darfst und weiterhin viel Kreativität.
Dankeschön.