Hi Thorsten,
du bist seit dem Jahr 2000 Gitarrist der Punkband Der Dicke Polizist aka DDP und seit 2017 parallel Bassist in der Band Blenden. Außerdem hast du noch dein brandneues Projekt mit der Band START75, von der es bald Veröffentlichungen geben wird. Du bist also schon etliche Jährchen musikalisch kreativ und aktiv dabei. Durch deinen Beruf hast du genauso einige Jahre Erfahrung mit Menschen mit Behinderung. Ich will nun an dieser Stelle wirklich sehr gerne mal dorthin schauen, wo sich beide Bereiche überschneiden. Von daher möchte ich diesem Interview mit dir dem Thema Inklusion und natürlich Musik widmen.
Erzähl doch mal, in welcher Weise gibt es in deinem Leben Berührungspunkte an denen diese beiden Themen sich überschneiden?
Liebe Anni, zunächst einmal vielen Dank dafür, dass du dich diesem wichtigen Thema widmest und an mich gedacht hast. Ich finde auch, dass in der Öffentlichkeit viel zu wenig darüber gesprochen wird. Durch solche Interviews kann es oftmals erst ins Bewusstsein von Menschen, die nämlich wenige oder gar keine Berührungspunkte mit Behinderung haben. Ich glaube nämlich, dass in der breiten Bevölkerung es so erscheint, dass im Bereich Inklusion alles super laufe. Das liegt in erster Linie daran, dass es sich um Parallelwelten handelt. Die Welt der Menschen mit Förderbedarf und die Welt der sogenannten Normalen. Diese beiden Welten sind in der Regel stark voneinander getrennt. Mir ist keine inklusive Musikband bekannt. Auch im Sportvereinen sucht man da nach wenigen Ausnahmen. Man kann sogar so weit gehen, dass sogar die komplette Freizeitgestaltung, also der Lebensinhalt, stark voneinander getrennt sind. Und Schule ist ja auch so ein Thema…
Meine Berührung mit diesem Bereich der Menschen mit Förderbedarf ist in erster Linie beruflicher Natur. Das muss man natürlich fairerweise sagen! Gerade aber dadurch, wird einem (mir) dieses Ausmaß immer wieder und stetig bewusst. Ich bewege mich in beiden Welten. In diesem Zusammenhang, das wird auch noch zentrales Thema dieses Interviews, ein kleines repräsentatives Beispiel:
Ich werde, wie jeder andere auch, immer wieder von Leuten gefragt, was ich beruflich mache. Wenn ich sage: „Sonderpädagoge“, wissen die meisten nicht, was es ist. Meist sage ich: „Lehrer für behinderte Kinder und Jugendliche.“ Als Reaktion kommt oftmals und unmittelbar sowas wie: „Mensch – toller Beruf. Das ist aber bestimmt hart!“ Viele Menschen kommen direkt in eine Mitleidshaltung. Die Menschen mit Förderbedarf werden in eine Schublade gepackt, sie werden stigmatisiert auf das, was sie nicht können und oftmals (vor allem bei älteren Menschen) als die armen Kranken bezeichnet. Und da liegt meiner Meinung nach das Problem: Es gibt kaum Berührungspunkte und wenn, zumeist zufällig (z.B. im Fußballstadion beim Aufgang zu den Behindertenplätzen oder an der Straßenecke, wenn der Rolli-Bus vorbei fährt). In letzter Zeit entdecke ich oft Plakate mit Menschen mit Förderbedarf (Aktion Mensch, Deutscher Fussball Bund etc.). Ja na klar – gut, aber trotzdem werden meist Kinder mit Down-Syndrom abgebildet, die irgendwie beim „Normalen“ Mitleid auslösen und das Herz ansprechen sollen. Daher werfe ich mal folgende Fragen auf: Gibt es wirklich inklusive Veranstaltungen? Meist, und wenn, ist es als solches bezeichnet, aber sollte es nicht selbstverständlich sein?!
Kannst du mal konkret einige Beispiele Deiner Arbeit erläutern, wo auffällig ist, dass es schwierig ist für Menschen mit Förderbedarf aus dieser Parallelwelt herauszukommen?
Einmal die Woche mache ich mit Schüler*innen ein Schulbandprojekt. Dazu fahren wir in eine Musikschule, die uns das Equipment und den Proberaum zur Verfügung stellt. Im Grunde ist es so, dass unsere Schüler*innen keinerlei Vorkenntnisse auf diesem Gebiet haben. Wir müssen also quasi bei 0 anfangen. Ich mache das so, dass ich den Schüler*innen auf verschiedenen Instrumenten Unterstützungsmöglichkeiten anbiete. Beim Bass und bei der Gitarre klebe ich farbige Aufkleber auf das Griffbrett, an denen sie sich dann orientieren. Ähnlich funktioniert das Keyboard. Im Grunde werden keine Akkorde gespielt, sondern einzelne Töne oder eine entsprechende offene Stimmung bei der Gitarre. Schlagzeug biete ich eher reduziert an. Oft nur Bassdrum und Snare. Meist haben wir noch Cachong oder diverse Rhythmusinstrumente dabei. Gesang ist ganz spannend: Da ist erstmal alles erlaubt, wird aber nach und nach (nennen wir es mal) reguliert. Bei der Auswahl der Schüler*innen schaue ich ein bisschen nach Interessenbekundung (Motivation), eventueller Vorkenntnisse und aber auch tatsächlich etwas nach Möglichkeiten, ob die Schüler*innen in der Lage sind, auch musikalische Strukturen umzusetzen. Wir covern Songs, machen aber auch eigene, die ich musikalisch grob vorkomponiere, Texte aber in jedem Fall mit den Schüler*innen gemeinsam erarbeite. So sind Songs, wie „Es ist Sommer!“ oder „Unsere Schule“ entstanden. Dazu erstelle ich Playbacks mit groben Rhythmen und Grundinstrumenten, auf die und mit denen die Schüler*innen ihre eigenen Instrumente einüben. Und dann beginnt die Arbeit! Nach und nach, versuche ich das Playback wegzulassen oder zumindest in den Hintergrund zu legen. Wir benötigen meist ein Halbjahr, um ein 15minütiges Medley fertig zu stellen. Auftritte fanden bisher nur in der eigenen Schule und im Kölner Stadtteil auf der Karnevalssitzung statt. Eine Gelegenheit es woanders zu präsentieren, hat sich bisher nicht ergeben. Tatsächlich habe ich auch so meine Bedenken, weiter in die Parallelwelt einzudringen. Auf der stadtteilinternen Karnevalssitzung sind sie uns sehr wohl gesonnen und unterstützen die Art und Weise, wie wir präsentieren. Also Playback mit instrumentieller und gesanglicher Untermalung. Die Stimmung ist groß, weil wir eben auch als Förderschüler*innen angekündigt werden, den Besucher*innen die Schule bekannt ist und wir auch eben dieses Herz und auch ein kleines bisschen das Mitleid der Menschen ansprechen. Alle Schüler*innen werden frenetisch abgefeiert und auch ich bekomme wieder dieses Lob: „Mensch – was du da einen schweren Beruf hast!“ Aber auch das ist irgendwie Inklusion! Ich mag die Menschen, die der Band zujubeln, aber irgendwie ist es auch komisch und macht mich traurig, dass es so stigmatisiert wird. Eine wirkliche Lösung dafür habe ich auch nicht, da ich auch nicht möchte, meine Schüler*nnen vorzuführen und auch der Gefahr auszusetzen, ausgelacht zu werden.
Ein weiterer Teil meiner Arbeit ist das Angebot einer Fussballmanschaft und die Vorbereitung zur „Special Olympics“. Dieses Jahr waren wir mit Schüler*innen im Bereich Leichtathletik bei den Special Olympics in Bonn an 3 Tagen. Alles war toll organisiert, aber eben (zumeist) fand alles wieder in dieser Parallelwelt statt. Die Menschen mit Behinderung haben unter sich Wettbewerbe ausgetragen. Es war ein tolles und großes Fest, wurde aber zu 95% von Menschen mit Behinderung, deren Betreuer*innen und als Zuschauer*innen deren Verwandte besucht, obwohl die Stadt Bonn sehr intensiv in der Öffentlichkeit dafür geworben hatte. Mir ist keine Bürgerin, kein Bürger der Stadt Bonn und keine „Normal-Schulklasse“ begegnet. Klar, einige Sportpromis haben auf Plakaten ihr Gesicht gezeigt oder auf der Eröffnungsfeier sich per Video eingeblendet, nur der „Normalo“ war nicht da! Im Grunde, auch wenn es supertoll war und die Schüler*innen enorm viel Selbstbewusstsein tanken konnten, war es eine Veranstaltung in der Parallelwelt.
Die Fussballmanschaft spielt einmal im Jahr ein Turnier und eben Freundschaftsspiele gegen andere Förderschulen. Ein Spiel gegen Regelschulen oder Fußballvereine fand bisher noch nicht statt, da müsste ich mich aktiv darum kümmern. Auch in diesem Bereich fänd ich mehr „Durchmischung“ angebracht.
Ja, das ist mit Sicherheit ein guter Punkt, dass nicht nur innerhalb des Schulsystems diese Parallelwelt besteht, sondern eben auch in fast allen anderen Lebensbereichen. Dadurch gehen bestimmt viele Chancen verloren, neue Horizonte zu entdecken und Dinge eventuell aus einer weniger ableistischen, das heißt auf die begrenzte Auswahl bestimmter Fähigkeiten fokussierten, Perspektive zu sehen. Vor allem werden Menschen leider auch ausgegrenzt durch diese Separation und in ihren Möglichkeiten zur Entfaltung und Teilhabe stark beschnitten. Ich beobachte, dass diese alten Strukturen stetig international immer weiter abgebaut werden, wenn auch so langsam, dass ich manchmal kaum dran glauben kann. Danke dir für deine Darstellung dieser wichtigen, gesellschaftlichen Problematik.
Mich würde sehr neben deinem Aufgabenbereich interessieren, wann und wie du zu deinem jetzigen Beruf gekommen bist und warum du diesen Weg für dich bis heute beibehalten hast.
Ich habe, wie viele andere Menschen in diesem Berufszweig, Zivildienst in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung gemacht und bin schlicht weg darauf hängen geblieben. Eigentlich wollte ich nach dem Zivildienst Sozialpädagogik studieren. Damals war der NC zu hoch und so bin ich zum Studium der Sonderpädagogik gekommen, da es da keinen gab. Als Unterrichtsfach habe ich Kunst studiert und anschließend noch Kunsttherapie. Während des Studiums war ich musikalisch mit „Der Dicke Polizist“ sehr aktiv und habe mich als Booker im Genre versucht. Eigentlich war das immer so mein Traum, der aber mit ausgebliebenem Erfolg (zumindest kommerziell) mich dann ins Referendariat getrieben hat. Nach diesem habe ich 7 Jahre im sozialen Brennpunkt in Duisburg, hauptsächlich als Kunstlehrer, an einer Förderschule für Lernen und Erziehungsschwierigenpädagogik gearbeitet. Irgendwann habe ich mich, weil ich eh und je schon in Köln gewohnt habe, dahin versetzen lassen und arbeite nun in meinem Stadtteil an einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung.
Ist man einmal im Schuldienst kommt man nicht wirklich mehr raus. Man kann sich an andere Schulen versetzen lassen oder zum Schulleiter aufsteigen. Ich habe mich schon immer darauf konzentriert, Projekte zu initiieren, die den Schüler*innen was Besonderes bieten.
Ganz trocken und rein buchhalterisch gesehen ist Erfolg gleich finanzieller Gewinn. Aber da gibt es ja zum Glück noch andere Maßstäbe. Ich finde es super, was du mit deinen Bands dann also beständig nebenberuflich auf die Beine gestellt hast. Jetzt kommt es deinen Schülern zugute, dass du so engagiert bist. Ich fürchte, der NC ist dort auch nicht vorhanden, weil es als „harter Job“ angesehen wird. Was natürlich schon wieder Indikator für eine gewisse behindertenfeindliche Grundhaltung ist. Ich sage nur: Menschen, die Behinderte bemitleiden, während sie gleichzeitig ein Teil des Problems sind.

Es folgt ein Überblick als kurzer Faktencheck der Förderschulen für die Lesenden: Zunächst mal, wie unterscheidet sich der Alltag an einer Integrationsschule von einer Regelschule?
Bei mir an der Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung ist der Schulalltag sehr anders als an einer Regelschule. Zum einen sind wir Ganztagsschule. D.h. die Schüler*innen sind bis 15Uhr beschult. Wir haben Schüler*innen im Alter von 6 bis 19 Jahren. In den letzten beiden Jahren durchlaufen sie eine Berufsvorbeitungsstufe, wo Praktika, meist in Werkstätten für angepasste Arbeit, stattfinden und berufsspezifisch in Schülerfirmen oder Arbeitstagen gearbeitet wird. In den Klassen befinden sich in etwa nur 12 Schüler*innen, die individuell, teils mit Integrationshilfe, gefördert werden. Quasi so nach dem Motto: Wir setzen da an, wo der Schüler, die Schülerin steht. Manche lernen die Kulturtechniken, wie Lesen, Schreiben und Mathe, manche in erster Linie lebenspraktische Dinge, wie Anziehen oder etwas aus dem Bereich Wahrnehmung oder Motorik.
Die Schulsituation bei dir in der Stadt, wie ist die für Kinder und Jugendliche mit Behinderung?
Zusammengefasst wird jedes Kind gemäß des Förderschwerpunktes in einer Förderschule gefördert. In einem Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfes wird von uns festgestellt, wo sie beschult werden. Einige wenige Kinder gehen in die Inklusion. D.h. sie besuchen eine Regelschule und werden dort von Sonderpädagogen gefördert, quasi integriert. In der Realität gibt es aber viel zu wenige solcher Fälle, vor allem, weil es zu wenige Inklusionsschulen gibt, die das anbieten. Zum anderen gibt es momentan viel zu wenige Sonderpädagogen auf dem Markt, so dass einige Lehrer*innenstellen schlicht weg leer laufen – sowohl an der Regelschule, als auch an der Förderschule. Und nicht zu vergessen: Die Eltern müssen da sehr hinterher sein, einen Inklusionsplatz für ihr Kind zu bekommen.
Der typische Werdegang von SchülerInnen an einer Integrationsschule. Wie sieht der in etwa aus und welche Möglichkeit der Berufsausbildung können die Schulabgänger anschließend mit dem erzielten Schulabschluss erwarten?
Zuerst einmal muss man unterscheiden, um welche Förderschulform, die sich nach dem Förderschwerpunkt richtet, es sich handelt. Ich benutze mal alte Bezeichnungen, da sie zu diesem Zweck konkreter sind: Es gibt Schulen für Geistigbehinderte, Lernbehinderte, Körperbehinderte und Erziehungsschwierige. Körperbehinderte und Erziehungsschwierige können theoretisch nach Richtlinien der Hauptschule unterrichtet werden. Und eben auch diesen Abschluss machen. Es gibt schon Möglichkeiten oder spezielle besondere Bildungsgänge, wo ein höherer Abschluss möglich ist. Da müsste man sich aber von Stadt zu Stadt reinarbeiten. Mittlerweile gibt es auch sonderpädagogische Stellen (mit wenigen Stunden) an Gymnasien. Meist zur Beratung und hauptsächlich für Kinder aus dem Autismus-Störungs-Spektrum (ASS).
Lernbehinderte können maximal den Hauptschulabschluss nach Klasse 9 machen, werden aber nach der Schulzeit noch eine Zeit lang betreut. Sie können dann entweder den Hauptschulabschluss mit einer abgespeckten Ausbildung machen oder in eine gehen. Schüler*innen im Bereich geistige Entwicklung landen meist direkt in einer Werkstatt für angepasste Arbeit.
Es ist schon seltsam, dass Körperbehinderte und Erziehungsschwierige erstmal nur so beschult werden, dass sie die Möglichkeit zum Hauptschulabschluss haben, anstatt Abitur zu machen. Diese Lehrstofflücke später zu schließen ist hart. Ein unfaires System, finde ich. Das regt mich auf.
An dieser Stelle schmeiße ich nun laut den Song „Konflikt“ von Blenden an. Ich denke diese Frage ist wahrscheinlich eine, die du schon oft diskutiert hast und ich meine damit die teilweise sehr emotional geführte Debatte: „Pro / Contra Inklusive Schule oder Separation im Schulsystem?“
Man muss natürlich auch sagen, dass für die Vielzahl der Kinder im Bereich Geistige Entwicklung die Förderschule mit kleinen Klassen und einem sehr guten Lehrer*innenschlüssel gut ist. Trotzdem wäre wünschenswert das Schulsystem aufzubrechen. Im Idealfall wären alle Kinder in einem Schulgebäude untergebracht mit Förderklassen und Kindern in Regelklassen, mit gemeinsamen Pausen und Angeboten. Das wäre wahre Inklusion. Also nicht separiert! Eine Gemeinschaftsschule eben, wo man jedem Kind in seinen individuellen Bedürfnissen gerecht werden kann. Gelungene Inklusion geht weit über den schulischen Bereich hinaus. Wie oben schon erwähnt, muss auch der Freizeitbereich und die Arbeitswelt aus der Parallelwelt heraus. Die Firmen müssen ja eine gewisse Anzahl an Behinderten einstellen oder sich eben frei kaufen. Mit diesem Geld werden zum Teil diese Werkstätten für angepasste Arbeit finanziert. Die einfachen Arbeiten werden klassisch outgesourced! Ist für die Firmen billiger und natürlich einfacher. Diese Strukturen sind weitestgehend unaufweichlich, da unsere gesamte Struktur über Jahrzehnte so gewachsen ist. Leider!
Geht dir da der Puls oder bleibst du noch ruhig bei dem Gedanken, dass Deutschland in Puncto allgemeine Barrierefreiheit, Inklusion, Inklusive Schule bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 im Gegensatz zu anderen Ländern in Europa, wie zum Beispiel Italien und Skandinavien, total hinterher hinkt?
Ist traurig. Wir stecken 100 Milliarden in Rüstung….
Das Thema ist leider vor vielen, vielen Jahren versaut worden. Es gibt halt Eliteschulen (Gymnasien, Privatschulen) und andere.
Wie gehst du damit um, wenn sich Frust bei den SchülerInnen aufgrund dieser Strukturen aufbaut?
Man muss leider sagen, dass die Schüler*innen einer Förderschule und die Erwachsenen in Werkstätten nichts anderes kennen und somit auch in ihrer Blase leben. Im Grunde funktioniert es für sie: Ganztags betreut (beschult) und später einen Beruf in der Werkstatt.
Frust baut sich eher bei Schüler*innen auf, die das System blicken und im Werdegang in verschiedenartigen Schicksalen (Elternhaus, soziales Umfeld, Migration, Handicap,…) auf diese Bahn gebracht worden sind. Für sie gibt es nämlich kein oder ein seltenes Zurück. Mit viel Fleiß und vor allem elterlicher Unterstützung – und das haben leider wirklich viele Kinder nicht.
Tja – oft ist eine Förderschule auch eine „Restschule“ – mit Kindern, die in kein anderes (vorhandenes) Schulsystem passen oder dort schon gescheitert sind. Das zeigt sich mitunter in psychischen Erkrankungen oder in generellem herausforderndem Verhalten, also in Aggression.
Natürlich versuche ich dem entgegenzuwirken, aber mal ehrlich: Oft ist die Frustration so groß, dass es nur noch darum geht, den Kindern eine „gute Zeit“ erlebbar zu machen und darauf zu hoffen, dass genug Eigenmotivation entsteht, da rauszukommen. Klar – wir arbeiten mit außerschulischen Institutionen zusammen und holen uns Beratung, aber oft ist es leider ausweglos.
Wie unterstützt du sie besonders wenn es um die Unterstützung gegen Diskrimierung, Stigmatisierung, eine Aussenseiterrolle oder verwehrte Teilhabe geht.
Das ist echt schwierig und auch frustrierend teilweise. Ich versuche die Schüler*innen so gut es geht zu stärken und ihnen lebenspraktische Dinge beizubringen. Und eben durch Projekte oder Inhalte ihnen versuchen, Möglichkeiten zur Kompensation und Selbstbewusstseinsstärkung zu vermitteln.
Apropos… Stichwort Kulturteilhabe, was fällt dir dazu ein?
Das ist etwas, was ich jedem Kind und Erwachsenen wünsche. Jeder Mensch soll die Möglichkeit haben, Kunst und Musik in allen Facetten zu machen und vor allem zu besuchen. Förderkindern muss ein Zugang zur Kultur ermöglicht werden mit Ausstellungen, Theateraufführungen und allem drumherum, nicht nur barrierefrei im klassischen Sinne, sondern barrierefrei im Sinne von Öffnung in alle Richtungen muss geschehen.
Ich habe mal in Kooperation mit dem Museum Ludwig in Köln oder früher schon mit dem Lehmbruckmuseum in Duisburg Möglichkeiten erarbeitet, Kunsterleben (Führungen) für Geistigbehinderte zu machen. Runter gebrochen ging es darum, Methoden zu entwickeln, Kunst erlebbar zu machen. Über alle Sinne, weg vom Klassischen, belehren. Das war sehr sehr wichtig, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein!
Wie sollte eine faire, gemeinsame Zukunft für Menschen mit und ohne Behinderung auf der Bühne und in der Musikbranche aussehen?
Musikbranche ist ein Wirtschaftszweig. Da geht es knallhart ums Geld und darum Trends zu beeinflussen und dann eben in diesen Trend kurzzeitig reinzuinvestieren, um dann wieder einen neuen zu schaffen.
Auch die Social Media sind ein kommerziell ausgelegter Haufen, wo es nur darum geht Algorithmen zu positionieren, um ganze Generationen abhängig und zu verblöden zu lassen. Ich sehe in diesem ganzen Geschäft leider keinen Platz für Inklusion und bin da wirklich sehr pessimistisch. Um eine faire, kleinkunstorientierte Zukunft in der Musikbranche zu etablieren müssten einige Entscheidungsfinder dort OBEN ein großes Charityherz entwickeln. Oder es müsste gesetzlich eine Quote geben oder kommerzielle Musik gekennzeichnet werden, so wie bei Werbeanzeigen, so dass man eigene (echte) Kunst erkennt und sie eben mehr wertschätzt. Aber eigentlich geht es auch hier um Chancengleichheit. Ein Mensch mit Behinderung hat von Anfang an nicht die gleichen Chancen. Er/Sie bekommt (zumeist) nicht „Musikalische Frühförderung“ vor allem mit Gleichaltrigen. Also auch Unterstützung im Freizeitbereich, um diese Chancen zu bekommen, sich, auf eine eigene Art und Weise, entwickeln zu können. Da greift halt keine Inklusion, wenn Kinder mit Förderbedarf separiert sind und das Schulsystem sich dem nicht endlich stellt. Denn dann gäbe es Schulbands mit Menschen mit Behinderung! Das wäre dann ganz normal!
Ich starte mal einen ungewöhnlichen Versuch: Punkrock und Förderpädagogik haben ja im Vergleich zu Regelpädagogik und Popmusik einige Ecken und Kanten, sind vielleicht auch irgendwie auf eine Art ein Nischending und nicht gerade Mainstream. Da müsste doch ein Herz wild dafür schlagen, um lange einer manchmal unbequemen Sache (siehe Definition von Erfolg) so treu zu bleiben wie du, denke ich mir. Fließt in die Arbeit mit behinderten jungen Menschen manchmal auf einer Ebene vielleicht genauso viel Leidenschaft und Herzblut wie in deine Musik, falls dieser Vergleich zulässig ist?
Hast du vielleicht sogar manchmal das Gefühl, als ob dein Punkrock-Background nützlich wäre für deinen Job?
Das möchte ich mir wirklich nicht anmaßen. Generell mag ich meinen Beruf, da er nicht so festgefahren ist. Jeder Tag ist anders. Dadurch, dass wir nicht so an einen vorgegebenen Lehrplan gebunden sind, kann man viel gestalten. Meine Kolleg*innen sind alle cool und die meisten auch ein wenig alternativ unterwegs. Ich glaube schon, dass sich da ein bestimmter Typ Mensch trifft.
Manchmal ist es mir aber wirklich auch zu viel Nähe. Ich sehe meine Schüler*innen öfters als meine eigenen Kinder. Es gibt viele Auffälligkeiten und Eigenarten bei den Kindern. Oft hat man das Gefühl, nicht dagegen anzukommen und kommt sich vor, wie bei dem Film „Täglich grüßt das Murmeltier“. Ich würde eher sagen, dass ich das Musikmachen als Ausgleich brauche. Es tut gut, sich regelmäßig laute Musik um die Ohren zu knallen und kreativ sein zu dürfen.
Ideal wäre, aber das will ja jeder, etwas weniger zu arbeiten, dafür sich mehr im Musikbereich rumzutreiben. Aber Kunst ist halt in den meisten Fällen brotlos.
Was beobachtest du für musikalische Strömungen unter den Jugendlichen mit Behinderung? Gibt es da eventuell spezielle emanzipatorische Richtungen oder eine bestimmte Vorliebe für ein Genre?
In den Klassen mit älteren Schüler*innen setzt sich in der Regel der (Deutsch-)Rap oder allgemeine Charts durch. Was alle mögen ist Karnevalsmusik – die geht bei kölner Kindern immer.
Emanzipatorische Richtungen sind mir bisher nicht begegnet, es sei denn, man bezeichnet „Unser Stammbaum von den Black Föös“ als solches. Dies ist quasi als eine antirassistische (vielfaltsstiftende) Hymne zu verstehen, die natürlich auf keiner Feier fehlen darf.
Im Endeffekt hören die (älteren) Schüler*innen das, was sie von ihren Geschwistern kennen oder sich gegenseitig, meist per Youtube vorspielen. Provokante Texte mit Schimpfwörtern oder Wörtern aus der Jugendsprache sind selbstverständlich beliebt. Ich bezweifle zwar, dass sich die meisten Schüler*innen inhaltlich groß mit Texten beschäftigen, aber als Abgrenzung zur Erwachsenenwelt finden sie es, wie andere Jugendliche auch, selbstverständlich toll. Wenn mir das zu intensiv vorkommt, versuche ich ihnen die Texte zu erklären, bzw. weise auf die diskriminierende Note hin oder verbiete gar einen Song. Aber generell will ich mich da nicht als Moralapostel sehen. Eine Subkultur leben, ist ja auch eine Form von individueller Abgrenzung und Identitätsfindung. So war ja auch meine musikalische Sozialisation verlaufen.
Generell stehe ich den Algorithmen von Youtube, Insta und TikTok sehr kritisch gegenüber. Das wäre inhaltlich noch mal Stoff für ein weiteres Interview!!!
Und haben dich die Kinder und Jugendlichen in irgendeiner Weise schon einmal als Musiker beeinflusst?
Unterbewusst vielleicht schon öfter, aber einmal auch sehr konkret:
Ich war mit der Fußballmannschaft und meinem Lehrer- und gleichzeitig Musikerkollegen Mathias (Blenden, START75) auf dem Weg zum Fussballplatz. Ein Schüler hat, als er den Sportplatz sah, aus vollem Herzen und mit einem unglaublichen Ausdruck gesagt: „Herr Voigt, ich freue mich auf Jetzt!“. Mathias und ich schauten uns an und sagten, dass wir da mal einen Song draus machen. Am gleichen Abend noch habe ich ihm einen ersten Entwurf geschickt. Dieser Song eröffnet mein Soloalbum „START75“, was am 01.12.2023 erscheinen wird. Es ist so simpel und auch so einfach. Das musste jetzt einfach mal weitergegeben werden!
Es ist tatsächlich oft so, dass meine Schüler*innen stets sehr emotional und unverblümt handeln. Oft denke ich, dass sie noch in der Lage sind, echte Emotionen zu zeigen. Das gelingt vielen in der Normaloparallelwelt, einschließlich mir, nicht immer. Wir gehen meist rational an Themen dran und zeigen unsere Gefühle erst nach Abwägung des Pro und Kontras.
Danke dir für das Interview bis hier hin, Thorsten.
Ich denke auch Kinder und Jugendliche sollten hier bei MusInclusion zu Wort kommen. Frische Ideen, Infragestellung gegenüber Traditionen, der Mut zum Protest sind typische jugendliche Attribute. Nonkonformismus, Power und Energie haben schon viele großartige MusikerInnen aus Schulbands entstehen lassen. Auch der Punkrock ist aus einer Jugendkultur entstanden. Ich würde gerne nicht nur über, sondern auch mit den Jugendlichen reden.
“Hättest Du Lust, mit den Jugendlichen eventuell ein kleines Interview hier bei dir im Musinclusionbeitrag unterzubringen?” Diese Frage hat Thorsten mit Ja beantwortet und hier kommt das Mini-Interview im Interview, das ich zusammen mit einem Jugendlichen aus Thorsten Schule und Thorsten geführt habe:
Interview in Zoom mit Thorsten und Jon (Schüler)
Hi Jon, erzähl mal, wie war das Musikprojekt für dich?
Jon: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht. Sonst bin ich eher schüchtern, aber auf der Bühne, bin ich eine richtige Rampensau! 😀 Wir sind aufgetreten bei der Karnevalssitzung mit drei Liedern.
Thorsten: Das waren Medleys zu denen ich ein Soundgerüst gemacht habe, so dass sie den Einsatz nicht verpassen konnten.
Jon: Es gab einen Riesenapplaus, sie fanden uns richtig gut. Nach dem Auftritt haben wir noch gefeiert und am Buffet so viel gegessen und getrunken wie wir wollten. Karnevalsmusik ist meine Lieblingsmusik.
Thorsten: Das Musikprojekt ging über mehrere Klassenstufen, Mittelstufe, Oberstufe und Berufsvorbereitungsstufe und bestand aus Jungen und Mädchen.
Jon: Ich habe gesungen. Wir haben auch mal einen Text selber gemacht und einen Song komponiert mit Keyboard. Wir haben dann gejammt. Den Text haben wir uns selbst ausgedacht mit Stichpunkten oder Worten, die uns eingefallen sind zum Sommer: zum Beispiel Wasserschlacht, Eis, Baggersee.
Wie war denn die Band aufgestellt?
Jon: Wir hatten in unserer Band Keyboard, Bass, Schlagzeug und Gesang. Ich war Sänger und habe auch Keyboard gespielt. Unser Lehrer hat die Tasten, die wir benutzen konnten, auf dem Keyboard abgeklebt und markiert. Wir konnten dann einfach losspielen, es hat immer gepasst und sich gut angehört.
Was macht eure Band jetzt gerade?
Jon: Leider mussten wir wegen Corona das Musikprojekt stoppen, weil es verboten war zu singen und die Klassenstufen zu mischen.
Oh, dann kannst du jetzt im Augenblick gar nicht Musik machen?
Jon: Die Musikschule Music Factory ist leider zu weit weg und in den Jugendklub gehe ich nicht so gerne, weil ich schüchtern bin. Also mache ich im Moment keine Musik, aber ich könnte es mir für später vorstellen, weil es sehr viel Spaß macht.
Vielleicht von zuhause aus mit einer App, z.B. für Autotune oder Karaoke?
Jon: Ja, das könnte ich mir gut vorstellen. Wir haben auch GarageBand kennen gelernt auf dem iPad und auch damit kann man Musik machen.
Vielen Dank für das Interview ihr beiden. 🙂
Achtung Fiktion!
Jetzt kommt ein Tagtraum, er bekommt von mir persönlich den Soundtrack von Der Dicke Polizist mit „und die Hoffnung stirbt zuletzt“. Ich träume, die Förderschulen mitsamt ihren bereits barrierefreien Räumen öffnen sich für Kinder ohne Behinderung und die Regelschulen öffnen sich für Kinder mit Behinderung, sodass alle gemeinsam lernen können.
Doch dann schrecke ich aus meinen Träumen auf.
Studien haben zwar gezeigt, dass gemeinsames Lernen und die natürliche Vielfalt im Klassenzimmer für beide Seiten positive Aspekte haben und funktionieren. Dies ist bislang aber tatsächlich noch ein Traum in Deutschland. Die Eltern behinderter Kinder schauen heute nach wie vor teilweise beunruhigt und verunsichert in die Zukunft, sobald die Einschulung näher rückt. Oftmals wissen sie nicht genau, wo und wie es nach der Kita weiter geht und vor allem:
Mit welchen Konsequenzen für die Zukunft?