Nachdem wir in unserem letzten Interview Andrea zum Thema Inklusion und Barrierefreiheit in der Szene befragt haben (zum Artikel geht’s hier), kommen heute Lisa, 34, und David, 35, die auch privat ein Paar sind, zu Wort. Zu den beiden fand ich über die Band Don Kanaille (die auch noch bei MusInclusion zu Wort kommen werden). Ihr Ziel ist es, mit ihrem gemeinnützigen Projekt SIT’N’SKATE dazu beizutragen, ihrer Vision einer inklusiven Gesellschaft näherzukommen. Im Folgenden erfahrt ihr mehr über das Projekt, wie die beiden sich kennengelernt haben, ihre Erfahrungen zum Thema Barrierefreiheit in der Punkszene und warum für Inklusion die ehrliche Bereitschaft von allen Seiten Voraussetzung ist.
Hallo ihr beiden, schön, dass ihr Zeit für uns gefunden habt! Erzählt uns doch erstmal ein bisschen etwas über Euch und euren Background!
Beide: Ja Hallo, wir sind Lisa und David und zusammen SIT’N’SKATE. Wir wollen mit unserem Projekt das Rollstuhlskaten unter die Leute bringen und Kindern und Jugendlichen regelmäßig ein Angebot bieten. Außerdem nutzen wir unsere durch Punk infizierte Angryness, um mithilfe von Fotos und Videos zum Umdenken anzuregen und auf die Missstände aufmerksam zu machen, die leider im Bereich Inklusion und Behinderung sehr präsent sind. Wir bewegen uns aber nicht nur im Skatepark, sondern auch auf Punkkonzerten, wo wir eben leider oft auf Probleme stoßen. Wir haben derzeit auch ein Projekt in Planung, das genau diese Themen beinhaltet: (Fehlende) Barrierefreiheit auf Konzerten und Ableismus. Du kamst auch gerade im richtigen Moment, das war irgendwie “wie abgesprochen”.
Lisa: Ich wurde mit Spina Bifida geboren, also einer angeborenen Querschnittlähmung. Ich bin aufgewachsen in Leer, einem kleinen verschlafenen Örtchen in Ostfriesland. Ich wurde 1994 eingeschult, da gab es Inklusion noch gar nicht. Da hieß es eher „Wenn es nicht klappt mir Dir, musst Du auf die Förderschule“. Ich hatte keine normale Schullaufbahn genossen. Die Gebäude waren trotzdem ganz gewöhnliche Schulen, vielleicht war eine der Schulen wirklich barrierefrei. In Leer war mit Punkrock nicht so viel los, mein erstes Punkkonzert dort war ZSK in einer alten Stadtvilla, dem Jugendzentrum.
Richtig los ging es dann mit 18, als ich mein Auto hatte. Ich bin davor schon Motorroller gefahren, denn Mobilität war super wichtig für mich. Im Nachhinein habe ich oft gesagt: Wenn ich damals schon einen Rollstuhl gehabt hätte, hätte das vieles erleichtert. Auf der anderen Seite hat es mich auch dazu gebracht, mir viele Dinge zu erkämpfen. Das war dann auch so ein stolzer Moment, als ich meiner Mutter, die davor eher skeptisch war, dann sagen konnte „Hey Mama, guck mal, ich kann doch Roller fahren“. Einen Monat nach meinem 18. Geburtstag hatte ich dann mein Auto und war nicht mehr zu halten. Meine Freund:innen waren damals eher so Emo. Ich hatte damals meine Rockabillyzeit und bin dann immer nach Oldenburg gefahren, die nächstgrößere Stadt. Ich habe aber auch die Emder Punkszene mit den Barroom Heroes entdeckt, dass war auch nicht so weit weg von Leer. Dann hab ich irgendwann meinen Exfreund kennengelernt, der auch in diversen Bands war und mit ihm bin ich auch mal nach Berlin gekommen und hab die Berliner Punkszene kennengelernt. Oder bin mal zu The Flatliners nach Paris gefahren und hab halt im Auto gepennt, so hab ich das damals oft gemacht.
Dann habe ich zum Glück Alex aus Dülmen kennengelernt, das war dann eher so eine familiärere Punkszene. Zu der Zeit war ich noch immer mit Krücken zu Fuß unterwegs. Mit 26 war ich dann in der Reha, da kam dann so eine Umbruchstimmung auf. Die sagen einem ja mit Spina immer “Du brauchst einen Rollstuhl, für lange Strecken”. Ich hatte damals einen, der allerdings ewig auf dem Dachboden stand. Als ich mit meiner Mutter mal nach London bin, habe ich ihn mitgenommen und das hat mir auch total Spaß gemacht. Aber ich habe mir nicht ‘erlaubt’, dass es mir Spaß machen darf, denn ich wollte ja weiter laufen können. Eigentlich total bescheuert. In dieser Reha eben habe ich auch eine Frau gesehen, die mal mit, mal ohne Rollstuhl unterwegs war. Und irgendwie hat mich das zum Nachdenken angeregt und am Ende hab ich die Reha mit einem Rezept für einen neuen Rollstuhl verlassen. Anfänglich hab ich mir Ereignisse ausgesucht, bei denen ich ihn dann benutzt habe (zum Einkaufen und für die Bibliothek). Und kurz darauf hab ich David kennengelernt. Und der hat mein ganzes tolles Konzept kaputt gemacht und seitdem fahre ich nur noch Rollstuhl – und find‘s super!
David: Meine Geschichte ist schneller erzählt. Meine Schullaufbahn ist uninteressant, ich bin ja gelaufen. Ich wurde aber übrigens trotzdem gemobbt. Die ersten Punkkonzerte waren bei mir ja noch alle zu Fuß und deshalb habe ich mir über Barrierefreiheit auch nie Gedanken machen müssen. Und dann hatte ich 2008, mit 21, einen Unfall, der mich in den Rollstuhl gebracht hat. Eigentlich habe ich den Rollstuhl aber als Befreiung gesehen – die Befreiung aus dem Krankenhausbett. Ich konnte mich wieder frei bewegen. Wenn ich vor meinem Unfall an Menschen mit Behinderung gedacht habe, war das in meiner Vorstellung eher jemand, der hilflos durch den Stadtpark geschoben wird. Das wollte ich nicht sein. Trotzdem war der Rollstuhl für mich von Anfang an etwas Positives – weil das Krankenhausbett so viel beschissener war. Ich hab auch relativ schnell in der Reha mit dem Rollstuhl viel Spaß gehabt und war überrascht, was man damit alles machen kann, was ich mir davor nicht hätte vorstellen können. Am Anfang war es sogar unvorstellbar für mich, eine Bordsteinkante hochzukommen.
Der Rollstuhl war somit von Anfang an für mich nicht nur ein Hilfsmittel, sondern ein Sportgerät, mit dem ich coole Sachen ausprobieren kann. Dadurch bin ich, nachdem ich ein Video von Aaron Fotheringham (Anm.: „Urvater“ des Rollstuhlskatings) gesehen habe, relativ schnell im Skatepark gelandet. Am Anfang hab ich es aber überhaupt nicht als Sport betrachtet, sondern eher den Skatepark als gute Möglichkeit angesehen, Alltagssituationen mit dem Rollstuhl zu üben. 2009 habe ich angefangen mit dem Skaten, seit 2013 gebe ich Kurse. Bei einem dieser Kurse haben wir uns dann auch kennengelernt.
Lisa: Bei mir hat es das dann auch quasi den Blick auf den Rollstuhl total verändert. Etwa zeitgleich hat ein Kumpel von mir ein Video von Aaron gepostet und erst damals, also mit 26, kam mir in den Sinn: “Krass, ich kann ja auch Sport machen”. Davor dachte ich immer schon “Ich mach ja eh alles, ich verpass nix, bin selbständig usw.,”, aber dass ich mit dem Rolli noch selbständiger werden kann, kam mir dann erst nach und nach in den Sinn. Und dann hat David diesen Kurs gemacht und da musste ich dann natürlich hin. Ich habe vorher auch dann schon einmal gegoogelt, wer dieser David Lebuser ist. Ich wusste ja, diese Szene ist sehr sehr klein und hab ihn bei Facebook gestalkt und als Punkrocker wahrgenommen. Ja, und so haben wir uns kennengelernt.
Ich finde es voll krass, zu hören, dass Themen wie Sport für Dich, und vielleicht auch für andere Menschen mit Behinderungen, von vornherein ausgeklammert werden und einfach ganz selbstverständlich nicht auftauchen- wie eben auch oft Musik, insbesondere Punk. So gesehen wird man da von vornherein aus bestimmten Bereichen schon exkludiert, einfach, weil man die Möglichkeit für sich nicht sieht, aus unterschiedlichen Gründen.
Lisa: In meiner aktivsten Zeit, als ich noch mit Krücken unterwegs war, war auch der Untergrundclub Viper Room in Wien kein Problem für mich. Aber zu merken, dir wird im Rollstuhl, als erwachsener, selbstbewusster Mensch, auf einmal verboten (!) etwas zu machen, zum Beispiel du darfst keine Rolltreppe fahren oder in diesen Club nicht rein, da bin ich vom Glauben abgefallen….
David: Für mich war Barrierefreiheit in Clubs am Anfang auch völlig unwichtig, es gab immer eine Möglichkeit irgendwie reinzukommen. Ich war da auch relativ schmerzfrei, wenn es zum Beispiel um Klos ging und hab zum Beispiel auch in irgendwelche leeren Colaflaschen hinter der Bar gepinkelt. Ich war dann aber relativ schnell geschockt, als ich das erste mal WEGEN meines Rollstuhls nicht rein durfte.
Da bin ich echt fassungslos, aber wie begründen die jeweiligen Clubs das denn??? Ihr seid übrigens (leider!) nicht die ersten, die mir so was erzählen, ich habe schonmal von jemandem gehört, dass er in einen Club in Hamburg nicht reinkam mit Rollstuhl…
Lisa: Das kann nur das Gruenspan gewesen sein. Die waren vor Corona gefühlt in jeder Klatschpresse genau deswegen. Ein Kumpel von uns ist kleinwüchsig und benutzt einen Roller und der durfte zum Beispiel auch nicht rein.
David: Gerade in der Punkrockszene gehst Du mit so einem Selbstverständnis zur Show, dass es inklusiv ist, dass jeder willkommen ist. In jedem kleinen Club, wenn er noch so wenig barrierefrei ist, gibt es immer irgendwie eine Möglichkeit. Aber sobald Clubs so eine Grenze von 1000 Leute erreichen, haben sie eben krassere Bestimmungen. In Berlin war das Argument immer ‚polizeibhördliche Anweisung‘, in Hamburg ist es eben ‚Brandschutz‘
Brandschutz, weil ein Rollstuhlfahrer eben nicht schnell genug rauskommen würde, wenn ein Feuer ausbricht?
Lisa: Nee, es geht nicht um Dich. Selbst wenn Du sagst “Ich unterschreib Dir was, dann verbrenn‘ ich halt” machen die das nicht. Nee, es geht darum, dass der Rollstuhl bei Ausbruch eines Feuers im Weg stehen und jemand dann drüber stolpern könnte. So die Begründung vom Gruenspan.
Mir fehlen gerade die Worte…
David: Die besoffenen Gäste können natürlich nicht vor dem Notausgang stolpern. Das ist ja was ganz anderes.
Lisa: Das ist auch der Grund, warum wir gesagt haben “Über Inklusion reden, schön und gut – aber es reicht jetzt auch langsam mal…wir brauchen ‘Allies’ (Anm.: Verbündete), wir brauchen Leute, die MIT uns auf die Straße gehen! Gerade in unserer Szene, wo es um Solidarität geht, müssen die ihren Arsch hochkriegen und ihre Augen aufmachen!”
Das sehe ich hundertprozentig genauso. Gerade jetzt, wo ähnliche Themen (siehe #PunkToo) auch laut werden. Warum wurde Inklusion bisher so wenig sichtbar gemacht? Warum ist da bisher noch nicht mehr passiert? Und Inklusion sollte kein ‘Goodie’ sein. Denn es sollte selbstverständlich sein, dass jedes öffentliche Gebäude für jeden barrierefrei zugänglich ist! Man sollte nicht überrascht und dankbar dafür sein müssen, wenn es dann mal so ist.
Lisa: Ich will ja gar nicht den Clubs den schwarzen Peter zuschieben. Wenn ich da zum Beispiel an meine Lieblingsclubs Wild At Heart oder Tiki Heart in Berlin denke – da würde ich gerne mal wieder hin, hab aber keine Ahnung, wie man so einen Club barrierefrei hinkriegen sollte. Es gibt aber halt den Unterschied, ob Leute es versuchen und sagen “Soll ich mit anpacken” ,”Du, Sorry, Klo ist im Keller, aber im Backstage haben wir eins, da ist nur eine Stufe” oder “Ihr dürft hier nicht rein”. Oder zum Beispiel wenn Du dann einen Platz bekommst und du darfst dich dann nicht wegbewegen.
David: Das sind für mich auch zwei unterschiedliche Dinge, die man nicht komplett trennen kann. Zum einen die reine Barrierefreiheit – denn wenn wir mit ein paar Treppen klar kommen, gibt es trotzdem immer die, die komplett ausgeschlossen sind, weil sie zum Beispiel mit dem E-Rollstuhl da nicht reinkommen. Das letzte, was wir natürlich wollen, ist, dass so kleine Clubs wegen fehlender Barrierefreiheit nicht geöffnet bleiben dürfen. Aber viel schlimmer finde ich, wenn eben so ein Club wie das Gruenspan, der übrigens nur ZWEI Stufen vor der Tür hat, sagt, wir dürfen da nicht rein, obwohl es für uns problemlos möglich wäre.
Lisa: Als David in der Markthalle bei den Interrupters seinen Rollstuhlplatz verlassen wollte, hat ihn der Securitytyp festgehalten. Dabei wäre er fast die Stufe runtergefallen und alle haben gegrölt, weil alle dachten, der Security rettet ihn vorm Abstürzen. Die Sängerin Amy hat dann extra die Show ‘interrupted’.
David: Man muss da auf so einer breiten Treppenstufe stehen und darf während der Show nicht weg. Das barrierefreie Klo ist aber am anderen Ende und nur über Treppe zu erreichen Also habe ich dann einfach gesagt “Ich muss mal aufs Klo” und bin dann erst Richtung Klo um von hinten in den Pit zu gelangen. Bei Motörhead in der Alsterdorfer Sporthalle hab ich das auch so ähnlich machen müssen. Da sitzt man als Rollstuhlfahrer:in direkt vor einem Vorhang ganz hinten mit einem scheiß Sound, und muss trotzdem das teure Ticket bezahlen. In den Innenbereich darfst du gar nicht erst.
Man wird quasi mit Händen und Füßen daran gehindert, sich zu inkludieren…
David: Im wahrsten Sinne…Aber ich will bei Konzerten nicht die schöne Aussicht genießen, dann kann ich mir die DVD angucken. Ich will mitten rein, ich will die schweißigen Achseln im Gesicht haben und den Ellbogen in die Fresse kriegen, nur dann fühlt sich das für mich echt an. Deswegen kann ich auf so einem Podest auch nie lange bleiben. Wenn ich mit meinem Rolli auf einem Podest stehe, dann bin ich eigentlich die ganze Zeit nur damit beschäftigt zu schauen, wo und wie ich ausbrechen kann. Aber ich weiß natürlich, dass es für andere wichtig ist, dass es diese Plätze gibt, damit sie einen sicheren Platz haben, wo sie nicht umgerempelt werden. Dass ich dann aber als erwachsener Mensch von einem Club dabei behindert werde, mein Verständnis von Punkrock auszuleben oder, dass es dann Clubs gibt, die mich nicht reinlassen oder mir Leute dann sagen, das ist gefährlich, weil jemand über meinen Rollstuhl fallen könnte, das kotzt mich an. Wenn man im Pogo ist, gibt es tausend andere Sachen, die passieren können.
Lisa: Wenn man hundertprozentige Sicherheit will, darf man eh nichts mehr machen…
David: Vielleicht auf bestuhlte Punkrockkonzerte…dann kann man einfach dieses Corona-Konzept beibehalten!
Lisa: Oft ist es ja nicht grundsätzlich so, dass die Venue-Betreiber:innen Arschlöcher sind, sondern die kommen ja dann immer mit so Sachen wie Brandschutz etc. Also eigentlich muss man nochmal eins weiter oben ansetzen. Das kann doch nicht sein. Wieso ist es bei den Clubs ab 1000 Besucher so und warum klappt das bei vielen kleineren Clubs? Ich meine so Versicherungsvorgaben sind ja von Menschen gemacht und wie kann das dann sein, dass es Gesetze gibt, die beinhalten, das Menschen ausgeschlossen werden?
Na, weil sie meist von Menschen gemacht werden, die keine Behinderung haben. Genauso wie die ganzen tollen Inklusionskonzepte. Die Entscheidungsträger:innen, so zumindest meine persönliche Erfahrung, sind meist relativ wenig empathisch.
Lisa: Und genau deswegen brauchen wir ‘Allies’ !!!
David: Es wäre halt auch wichtig, dass man Bands und Booker:innen und so sensibilisiert, dass die auch wissen, wenn wir jetzt zum Beispiel ein Konzert im Gruenspan veranstalten, schließen wir dabei Leute aus. Wir denken, das führt dann dazu, dass dort Bands das auch dem Publikum mitteilen: “Wenn wir heute hier für Euch spielen, können einige nicht dabei sein. Das ist ungerecht und muss sich ändern!”
Lisa: Es geht ja überhaupt gar nicht darum, Bands, Booker:innen und Clubs gegeneinander auszuspielen. In anderen Bereichen haben wir ja schon viel mehr erreicht, wenn auch noch nicht genug.
Deswegen müssen wir LAUT sein. Und nicht in dieser Bittstellerposition und Dankbarkeit verharren. Es muss selbstverständlich werden, Normalität werden. Auch wenn das noch ein langer Weg ist…
Lisa: Ja, und ich glaube, dass jetzt nicht nur wegen Corona gerade die richtige Zeit ist, sondern weil wir gerade so viel über Privilegien sprechen – “Black Lives Matter” hat ja allgemein gesellschaftlich auch was bewegt, ich glaube da können wir noch länger von zehren.
Durch Corona ist man sich eben seiner Privilegien bewusst geworden. Natürlich gibt es Verbesserungsbedarf, aber wir können dieses Privileg nutzen und Menschen helfen, sie in die Mitte zu holen, und ich würde mir echt wünschen, dass das auch im Bezug auf echte Inklusion passiert! (Also nicht die Konzepte, die alle toll finden und dann trotzdem nicht aktiv umsetzen…)
Beide: Wie wichtig auch die Sensibilisierung und das Informieren ist, habe ich zum Beispiel gemerkt beim Konzert von Alarmsignal, die von der Bühne aus gesagt haben: “Schön, dass ihr Euch alle über den St.Pauli-Sieg freut. Aber es wäre halt auch schön, wenn die ganzen Leute, die hier ins Stadion gehen auch zur Demo gegen Nazis, gegen Sexismus usw. gehen würden”. Die setzen sich halt klar gegen Sexismus und Rassismus ein.
David: Als ich den Sänger dann nach dem Konzert auf Ableismus angesprochen habe, war das für ihn dann auch ein Thema, was einfach außerhalb seiner Kenntnis war. Er hat sich dann auch bedankt, dass wir ihn darüber aufgeklärt haben. Also selbst die supersolidarischen und aktivistischen Menschen der Szene haben oft einfach noch nichts davon gehört. Und deswegen ist es wichtig, dieses Wissen zu verbreiten. Wenn die Band bei Konzerten weiß, da will einer mit Rollstuhl rein, der schon ein Ticket gekauft hat und sich aufs Konzert freut und dann einfach nicht reingelassen wird (wahre Begebenheit), dann könnten die auch ganz anders agieren. Oft spielen die da drin und haben von derartigen Aktionen keine Ahnung. Ich erinnere mich an eine Szene auf einem Konzert. Da wollte ich auch wieder irgendwo hin und durfte das nicht, dann wollte der Sänger mich auf die Bühne holen. Ich wollte eigentlich aber gar nicht auf die Bühne, sondern in der Masse bleiben. Kaum war die Ansage gemacht, ließen mir die Securities etwas genervt mehr Freiraum. Die Ansage war der Türöffner und jeder an dem Abend hat‘s gehört. Das war gut!
Man will ja vielleicht auch nicht immer im Mittelpunkt stehen…
David: Ich fand es auch schon geil, auf der Bühne zu feiern – aber halt nicht immer und schon gar nicht die ganze Zeit. Aber ich finde, wir müssen die ‚Macht‘, die die Bands haben, nutzen. Die machen das ja auch schon zu politischen Themen etc. teilweise so, dass sie die Pausen zwischen den Songs für sowas nutzen.
Lisa: Die Frage ist jetzt halt, wie macht man das…
David: Unsere Idee ist es, Videos mit unterschiedlichen Bands zu machen. Wir haben zum Beispiel schon Far From Finished auf unserer Seite. Der Sänger Steve hat ja auch selbst eine Behinderung. Der war auch echt geschockt, als wir ihm das alles erzählten. In Amerika wird ein Club dann halt verklagt wegen sowas. Das gibt es hier nicht.
Spannend, bisher hab ich noch keinen Ländervergleich gemacht, steht aber auch noch auf der Liste.
Lisa: Amerika kann man ja an vielen Stellen kritisieren, aber was Barrierefreiheit und Inklusion angeht, sind die Weltspitze. Du hast in jedem noch so kleinen Laden dort ein Rolliklo, du kommst in jeden Laden rein, da gibt es keine Stufen!
David: Zwecks Ländervergleich – ich war auch in Helsinki, Finnland, in ein paar Clubs, die echt klein und schäbig waren. Die hatten jetzt zwar kein astreines Rolliklo, aber die hatten ein großes ebenerdiges Klo ohne Schamschutzwände (die sind für Rollstühle meist zu eng). Ich bin totaler Fan von pragmatischen Lösungen. Nicht immer muss man sofort die perfekte Barrierefreiheit haben. Aber man muss in der Lage sein, auch mal einfache und schnell umzusetzende Lösungen finden, die für den Moment funktionieren und dann darauf aufbauen.
Lisa: Es ist halt leider oft ‚Ganz oder gar nicht‘.
Ja, und es geht ja um die Bereitschaft. Es ist klar, dass kein Club für alle Menschen mit allen Behinderungen barrierefrei sein kann, da diese so differenziert sind. Aber offen dafür zu sein und sich anzuhören, welche Bedürfnisse ein Mensch mit Behinderung hat, um einen entspannten Abend im Club XYZ zu verbringen ist ein Anfang. So zum Beispiel ausdrücklich erwünscht im Club Zentral in Stuttgart (Link zum Interview mit Jens vom Club Zentral findet ihr hier).
David: Das ist ja auch so ein Kreislauf. Du wirst nicht mitgedacht, wenn Du nicht gesehen wirst, aber du wirst nicht gesehen, weil du nicht rein kommst. Wenn es dann aber möglich gemacht wird, dass Menschen mit Behinderungen auch teilnehmen können, dann kommen sie halt auch, werden gesehen und am Ende vielleicht sogar mitgedacht. Wenn ich zum Beispiel im Monkey‘s, einem ebenerdigen Club in Hamburg, bin, komme ich auf das normale ebenerdige Klo. Es ist jetzt kein super barrierefreies Klo und es ist auch nicht immer toll, wenn man da quasi im freien Raum kathetert und dich betrunkene Leute fragen, ob sie dir helfen können – aber in dem Moment mache ich lieber das, als an der Bar zu fragen “Hallo, kann mir jemand das Behindertenklo aufschließen?” (das im anderen Gebäude ist). Ich bevorzuge die pragmatische Variante, wo ich keine Hilfe brauche – aber mich eben dafür Leute anquatschen, ob ich Hilfe brauche, haha. Du rückst immer so in den Mittelpunkt. Ich selbst kann damit ganz gut umgehen, aber manchmal will man ja auch in der Menge untergehen. Ich muss auch echt oft Leuten im Pit sagen “Verpiss Dich, ich brauche keinen Bodyguard”, weil die mir helfen wollen und mich zum Beispiel abschirmen. Ich hatte früher einen Rolli mit Griffen, da ist das auch öfter mal passiert, dass ich einfach woanders hingeschoben wurde. Ein Grund, warum ich inzwischen einen Rollstuhl ohne Schiebegriffe habe. Ich würde mir hier wünschen, dass die Leute vorher einfach mal fragen, was bei einem lauten Konzert natürlich nicht ganz einfach ist.
Andererseits sind auch ganz viel Hemmungen da auf Seiten der Menschen ohne Behinderung. Wir haben im engsten Kreis sogar Menschen, die ein Problem damit haben, das Wort ‚Behinderung‘ in den Mund zu nehmen und die Behinderung unserer Tochter einfach ignorieren. Es muss ja nicht permanent zum Thema gemacht werden, aber die Behinderung ist eben ein Teil unserer Tochter und gehört zu ihrem – und somit auch zu unserem – Alltag. Das macht mich unglaublich wütend. Ich mache es unserem Gegenüber sogar oft leicht, indem ich den ersten Schritt mache. Andererseits kenne ich diese Hemmungen selbst auch im Zusammenhang mit anderen Thematiken, weil ich nicht respektlos sein möchte. Aber wie könnte man da diese Hemmschwellen abbauen?
Lisa: Ja, Begegnung, das ist das A und O. Wir sind ja auch erstmal unbeholfen, wenn wir mit einer blinden oder gehörlosen Person Kontakt haben. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass schon Kinder damit aufwachsen. Dann ist das nicht mehr so zäh ,wenn man mal einen Menschen mit Behinderung trifft.
David: Dann gibt es vielleicht auch nicht mehr dieses “Oh”, wenn Leute dich im Rollstuhl entdecken. “Oh, der sitzt ja im Rollstuhl”, was halt oft mit Unsicherheiten im Umgang untereinander einhergeht. Zum Beispiel in einem Club beim Einlass: “Oh, ihr werdet hier heute aber keinen Spaß haben”.
Lisa: So passiert bei einem Konzert einer befreundeten Band (Nowherebound), die als Support von The Creepshow gespielt haben. Und das, nachdem wir zwei Stunden zum Club gefahren sind, um unsere Kumpels spielen zu sehen…Da hatten wir aber dann unsere ‘Allies’ dabei, die sich laut und verständnislos dazu geäußert haben und nicht weggeschaut haben. Eines der Argumente war das Klo, das nur im Keller über Treppen erreichbar ist. Ich hätte da eine super Lösung: Wenn man sich als Club einfach erkundigt, wo im Umkreis das nächste Behinderten-WC ist und sich mit dieser anderen Location arrangiert, dass man dieses mit dem Einlass-Stempel dann benutzen darf – das wäre eine einfache Lösung. Man kann sich doch wenigstens Mühe geben. Zum Beispiel auch Getränkekarten mit QR-Code, damit das Smartphone das für blinde Menschen vorlesen kann. Das ist technisch alles kein Mega-Aufwand.
Ron Paustian von ‚Inklusion Muss Laut Sein‘ (Link zum Interview hier) berät zum Beispiel Clubs bezüglich Barrierefreiheit, aber da müssen Clubs eben auch offen dafür sein!
Lisa: Wir sind ja auch ganz gut vernetzt, zum Beispiel eben mit Steve von Far From Finished oder anderen Bands. Aber ich hätte halt gern auch mal ein Statement von einem Bela B. oder so, der zum Beispiel mal in einer Talkshow darüber spricht, damit es endlich mal Awareness für das Thema mit ein bisschen Reichweite gibt. Es geht darum, die Menschen zu überzeugen, die bisher noch nicht dafür sensibilisiert sind.
Kennt ihr Bands oder Solo-Musiker:innen mit Behinderung?
Lisa: Steve von Far from Finished halt.
David: Bei den Wild at Heart-Streaming Sessions gab es die Band Banana Of Death mit einer Schlagzeugerin mit vermutlich AMC (Anm.: Form der Gelenksteife). Das wird nicht thematisiert, so wie eben auch bei Far From Finished. Aber das ist ja eigentlich auch Inklusion. Wenn es nicht mehr auf dem ‚Etikett‘ steht. Es gibt bestimmt hier und da Bands, die quasi inklusiv sind, ohne dass man es weiß, aber mir fällt jetzt auf Anhieb kein weiteres Beispiel ein, wo ein:e Rollstuhlfahrer:in auf der Bühne ist.
Lisa: Mit Sicherheit gibt es ganz viele Bands mit Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aber da würde man auch nicht sagen, dass das eine inklusive Band ist. Denn erstens sieht man es nicht und zweitens ist das schon eher Teil der Gesellschaft. Ich sehe zum Beispiel so inklusive Musikveranstaltungen auch eher kritisch. Oft sind das dann so Nachmittagsveranstaltungen. Und ich finde, man sollte dann überlegen: “Würde jemand ohne Behinderung die Show auch geil finden”? Und wenn die Antwort “Nein” ist, dann isses Scheiße! Dann hat es vielleicht seine Daseinsberechtigung, aber es ist eben nicht inklusiv. Deswegen versuchen wir unsere Skate Events auch so zu gestalten, dass es attraktiv für Skateboarder:innen und Rollstuhlfahrer:innen sind.
Mich erinnert dies Thema übrigens auch an die Diskussion Pro / Contra ‚Female Fronted‘ als hervorgehobene Bezeichnung. Ein Pro Argument, das ich diesbezüglich schon gehört habe wäre, dass bei der Ankündigung einer Band zum Konzert (auf einem Plakat / Flyer z.B.) bei dieser Bezeichnung (wenn es sich um eine vorher unbekannte Band handelt) auch eher mit einem gemischten Publikum gerechnet werden kann!
David: Ich versteh das total, dass Frauen zum Beispiel sagen, dass sie kein Bock auf das männerlastige Publikum bei einem Punk- oder Hardcorekonzert haben. Ich selbst würde jetzt aber nicht lieber zu einem Konzert gehen, nur weil ich wüsste, dass die Band nur aus Rollstuhlfahrer:innen besteht.
Ich glaube jedenfalls schon, wenn es sichtbar mehr Frauen – oder auf unser Gespräch jetzt bezogen, Menschen mit Behinderungen – nicht nur im Publikum, sondern auch auf der Bühne gäbe, würden sich vielleicht auch mehr trauen, selbst z.B. zum Instrument zu greifen…
Lisa: Ich hab mich tatsächlich ein Jahr durch Schlagzeugstunden gequält, aber ich bin leider nicht dazu in der Lage. Und das hat nichts mit meiner Behinderung zu tun. Ich selbst habe auf Konzerten auch kein Problem mit einem männerlastigen Publikum.
Vielen Dank ihr beiden für das spannende Gespräch! Da liegt noch viel Arbeit vor uns, wenn wir uns als inklusive Szene verstehen wollen…
David: Ich würde aber echt mal gerne eine Band mit jemandem im Rollstuhl im Gruenspan spielen sehen, das ist doch ein tolles Ziel – haha!