Wir schreiben Juli 2021. Deutschland befindet sich irgendwo im sonnigen Nichts zwischen der dritten und vierten Corona Welle, an die noch keiner wirklich glauben wollte. Nun, Wissenschaft ist keine Glaubensfrage und so war eigentlich allen klar was kommen wird. Wir haben es jedoch einfach ignoriert, mich eingeschlossen. Ich befand mich an der Ostsee im Familienurlaub und verbrachte meine Tage meist lesend in unserem Strandkorb, den wir uns spießig wie wir sind, natürlich auch schon ein Jahr im voraus reserviert haben. Das ist immer die Zeit, in der ich mich in einem „Lese-Flow“ befinde. Im Grunde lese ich tatsächlich nur in diesen 2-3 Wochen im Jahr mal mehr als eine Zeitschrift. Ich hatte gerade einen Roman von einem meiner Lieblingsautoren, wenn man davon bei der Menge, die ich lese, überhaupt sprechen oder schreiben kann, Frank Goosen beendet und gierte nach mehr einfacher Literatur. So traf es sich, dass genau in unserem Urlaub Reinhard „Zwakkelmann“ Wolff sein Debüt als Romanautor gegeben hat.
Just einen Tag vor Veröffentlichung bin ich also zum ansässigen Buchladen spaziert, um mir „Shitsingle“ zu ordern. Zu meinem großen Bedauern war der Roman jedoch noch nicht gelistet. Der Urlaub war vorbei, aus den Augen, aus dem Sinn. Ein paar Wochen später bekam unsere Redaktion die Anfrage, ob wir „Shitsingle“ nicht besprechen wollen würden. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich bis dato noch nie eine Buchkritik geschrieben habe. Die Tatsache, dass ich überhaupt schreibe und es vermutlich auch noch 1-2 Menschen außer mir lesen, lässt meinen alten Deutschlehrer Norbert H. sich im Grabe umdrehen, zumindest wenn er inzwischen gestorben ist.
Nun, ich sagte trotzdem spontan zu die Kritik zu schreiben, denn wie oben ausführlich erläutert, wollte ich mir das Buch ja eigentlich eh zulegen. Außerdem stand unser Herbsturlaub an der Ostsee vor der Tür. Dumm nur, dass es im Herbst an der See unerwartet deutlich kälter ist und die Strandkörbe inzwischen eingelagert sind. Shit Happens. Trotzdem begann ich zu lesen und die ersten Seiten waren eine richtige Quälerei für mich. Das Buch zog sich zunächst wie Kaugummi und ich dachte nur so bei mir, warum muss ein Punkrocker wie Wolff jetzt auch noch ein Buch schreiben? Schuster bleib bei deinen Leisten! Immerhin schreibe ich ja auch keine Buchkritiken.
Was aber passiert, wenn es aufgrund einer nicht enden wollenden Pandemie einfach keinen Leisten gibt? Sprich einfach quasi keine Auftritte stattfinden und man anfangs nicht mal die Möglichkeit hatte, mit der Band zu proben und einfach nur zuhause bleiben musste? Vielleicht fängt man ja einfach mal an zu schreiben. Tja und wenn man dann vom Gesundheitsamt, übrigens völlig berechtigt, zu einer Quarantäne verdonnert wird, fängt man vielleicht auch mal an außerhalb des Strandkorbs ein Buch in die Hand zu nehmen, es regelrecht zu verschlingen und anschließend eine Kritik darüber zu schreiben.
Ich benötigte insgesamt keine drei Tage für die 246 Seiten aus de Hause Hirnkost. Als Vergleich: Im Normalfall benötige ich für die gleiche Menge 1-2 Sommerurlaube. Die Anekdoten, die Wolff zum besten gibt, lesen sich locker frei weg. Teils werden wir mit dem Leben eines Künstlers in der zweiten Hälfte seines Lebens konfrontiert, der aufgrund der Pandemie dazu gezwungen ist, komplett zu entschleunigen. Allerdings bekommt man das Gefühl, als sei ihm das gar nicht so unrecht. Zum Teil gewährt er uns auch Einblicke in die Vergangenheit, in die Zeit seiner ehemaligen Band Schließmuskel beispielsweise, mit der er zusammen mit den Mimmis und den Abstürzenden Brieftauben als „Festival der Volxmusik“ auf Tour ging, nimmt uns mit in den Ratinger Hof, quasi dem Mekka des Punk in den 1980ern, zumindest an Rhein und Ruhr.
Wir bekommen jedoch auch ganz private Einblicke, beispielsweise führt Wolff uns an den Unfallstelle, wo Schlaffkes (laut Roman hat Wolff den Namen von seinem Vater bekommen) jüngerer Bruder sein Leben lassen musste. Bei einigen Anekdoten habe ich mir gedacht, ok, 150 Seiten hätten es vielleicht auch getan. Ich persönlich möchte und muss nicht lesen, wie ein alter Onkel seinen Darm und seine Blase im gesamten Haus, nur nicht auf dem WC, entleert, aber vielleicht bin ich auch nur ein wenig eigen und wie ja weiter oben bereits geschrieben, einfach einen Tacken zu spießig dafür. Meistens habe ich jedoch bei den Anekdoten leicht geschmunzelt, teils sogar laut gelacht, vielleicht weil sie mir auch so ähnlich schon passiert sind oder eben, weil sie so lebendig beschrieben wurden, dass man sich hervorragend in die verschiedenen Situationen hineinversetzen kann.
Was mir jedoch ein wenig fehlte, ist die Tiefe. Doch eventuell erwarte ich da auch zu viel.
Immer wenn ich dachte, ok, jetzt kommen noch weitere Erläuterungen, Hintergründe oder ähnliches, begann schon die nächste kleine Geschichte. Dabei bietet ja speziell die Form des Buches die Möglichkeit tiefer zu gehen. So sind es leider immer nur kleine oberflächliche Geschichten, die man sich am Küchentresen einer Fete oder am Lagerfeuer im Ferienlager hätte erzählen können.
Weißt du noch damals… im Ferienlager… Ja genau! Hätte ich mir das Buch gekauft, wie es geplant war, ich wäre ein wenig enttäuscht gewesen, doch letztlich hält es, was es verspricht: Anekdoten eines Shit Singles.