„Die Welt ist irgendwie aus den Fugen geraten und ich weiß schon fast nicht mehr wie es vorher war.“ Diese Zeilen könnten aus einer Liebesballade stammen, so wie man sie schon zigtausende Mal nicht mehr hören kann, wo der Barde seiner Holden versucht klarzumachen, dass es ein Leben ohne sie nie gegeben hat. Mehr Kitsch ginge nicht und die Hörerschaft von deutschsprachigem Radiopop wie Mark Forster & Co. wüsste sofort, dass hier ein klarer Fall von Liebesalzheimer vorliegen würde. Tatsächlich ist es aber ganz anders…
Die oben zitierte Textzeile stammt aus dem Song „2020“, dem Opener des jüngsten Werks vom Multiinstrumentalisten Sebel aus Recklinghausen „2020 im Schlafanzug besiegt“, welches Ende August auf seinem eigenen Label Sebel Records veröffentlicht wurde. Seit 2020 und der Pandemie ist nichts wie wie es einst war und das traurige daran ist, man erinnert sich kaum noch an die Zeit davor. Mal Hand aufs Herz: Kommt es euch nicht auch komisch vor, wenn ihr einen Film anschaut und feststellt, dass dort niemand eine Maske trägt oder Abstand hält? Kommt es euch nicht auch völlig befremdlich vor, wenn ihr daran denkt, dass es einst Parties in Clubs gab, wo man dicht gedrängt tanzte, schwitzte und knutschte? Oder wenn ihr überlegt, dass es mal Konzerte gab, auf denen man stand oder tanzte und nicht mit Mindestabstand oder mit medizinischer Maske sitzen musste? Auf eben einer dieser damals unzähligen Konzerte durfte ich auch Sebel bereits live erleben, das letzte wirklich kurz vor dem ersten großen Lockdown in der Kaue in Gelsenkirchen an der Seite vom Ruhrgebietsrocker Stoppok. Zu dem Zeitpunkt gingen wir alle noch davon aus, dass es kein Problem ist auch weiterhin Konzerte zu besuchen, solange es, unabhängig von der Größe der Locations, nicht mehr als 500 Gäste sind. Ja, die Regel gab es mal… Wir wunderten uns, warum Toilettenpapier und Hefe gehortet wurden und nicht Bier, Wein und andere Alkoholika. Stoppok machte damals derartige Bemerkungen und wir haben alle zustimmend geklatscht. Kurze Zeit später ging der Humor und es war nichts mehr wie bisher. Manche:r Herrenausstatter:in verzweifelte, weil seine Kunden keine Buisnesskleidung mehr benötigten sondern zusätzliche Jogginghosen (ich weiß bis heute nicht, warum die so heißen) fürs frisch eingerichtete Homeoffice und mancher machte sie nicht mal die Mühe sondern ließ den Schlafanzug einfach an, womit der Albumtitel nun auch endlich erklärt ist. In den 1980ern hätte man Sebel’s Musik als Deutschrock bezeichnet. Inzwischen ist dieser Begriff mit einem braunen Schleier versehen. Die Musik, eine Mischung aus Rock und Blues, erinnert an die Größen der damaligen Zeit, wie Udo Lindenberg, Klaus Lage, BAP oder Peter Maffay. Das Album ist sehr solide und für die Hörerschaft bestimmt, die eben genau mit den eben erwähnten Künstlern musikalisch sozialisiert wurden. Es gibt wenig Überraschungen, doch das muss es auch nicht. Ein besonderes Highlight ist für mich „Stalingrad“, in welcher die große „Was wäre wenn“ Frage gestellt wird, wenn eben nicht die Nazis sondern die Sozialdemokraten 1933 an die Regierung gekommen wären. Ihr könnt das Album entweder streamen oder aber direkt bei Sebel im Shop bestellen. Wenn ich es nicht hätte, würde ich es machen und euch auch empfehlen, dies schnellstens nachzuholen. Gönnt euch…