Es gibt Bücher, wie zum Beispiel Sybille Bergs Buch „GRM“, für das ich ein Ewigkeit gebraucht habe es zu lesen, obschon ich es toll finde. So ähnlich erging es mir auch mit „Benito“ von Hendrik Otremba.
Aber zunächst, für diejenigen, die sich fragen, warum hier mal wieder ein Buch rezensiert wird, Hendrik Otremba ist Autor, bildender Künstler und Sänger der Band Messer. Zuletzt erschien 2021 ihr Album „No Future Dub’s“. Und auch im Buch werden an einzelnen Stellen musikalische Referenzen genannt, wird Musik gehört, steht aber nicht im Zentrum des Romans. “Benito” ist Ortembas dritter Roman.
Nun zum Buch:
Würde nicht diese Rezension geschrieben werden wollen, würde ich noch immer lesen. Ich wäre vermutlich erst an der Hälfte angelangt, oder hätte das Lesen verschoben auf eine Zeit, in der die Nachrichtenlage nicht schon ständig das Gemüt belastet. Ich hätte vermutlich zwischendurch ein wenig leichtere Lektüre dazwischen geschoben.
„Benito“ ist ein intensives Leseerlebnis, dessen Intensität vor allem dem klugen Schreiben und den verwendeten Stilmitteln geschuldet ist, so dass man immer wider zwischen gehetzt und verwirrt zwischen den Zeilen hängen bleibt.
Der Ich-Erzähler beginnt, versucht uns einzuführen in seine Geschichte, ohne recht zu wissen, wie und wo und bricht nach kurzem Versuch ab. Er wird abgelöst vom zweiten Erzählstrang, diesmal übernimmt der allwissende Erzähler in sachlichem, nüchternen Ton. Er nimmt uns mit auf eine Reise, auf die Reise der schwarzen Steine, einer Pfadfindergruppe. Zu ihnen gehören Cherubim und Benito. Kaum hat man sich eingelesen, wechselt der Erzählstrang. Stetig wechseln sie sich ab. Das fordert zu Beginn des Buches, wird man doch immer wieder aus der Geschichte gerissen. Was bleibst weiterlesen und schon bald baut diese Erzählstruktur Spannung auf. Dieser Stil funktioniert und hat Funktion. Er führt dazu, dass man tief mitfühlt mit dem Protagonisten Cherubim, seine Verwirrung, sein Unwissen, seine Beklemmung und Gesetztheit. Denn Cherubim, der junge Pfadfinder, ist der 31 Jahre ältere Ich-Erzähler.
Er erlebt als Erwachsener einen Anschlag, der keiner ist. Und er begibt sich auf die Suche nach Antworten. Warum wurde er eingeladen, zu diesem Anschlag? Was hat dies mit seiner Kindheit und seiner Reise mit den Schwarzen Steinen zu tun? Was hat diese Reise seiner Kindheit mit ihm gemacht, was hat er auf dieser Reise erlebt, was er unter einem dunklen Schleier der Verdrängung abgelegt hat. Wer ist Cherubim überhaupt, hinter all den Projektionen des Außen, die ihn in eine Rolle drängen, die ihn daran hindert sein wahres Wesen zu finden? Letztere Frage, die man beim Lesen, bewusst oder unbewusst auch sich selbst stellt: Wer bin ich?
Die Bilder, die Otremba aufzeichnet, lassen die Leserschaft tief in die Situation eintauchen, aber auch in Schmerz und Verzweiflung, was das Buch bisweilen zu einem schmerzhaften Lesevergnügen macht. Ständiges Ahnen und Befürchten, zusteuern auf ein Ereignis, während man von Ereignis zu Ereignis stolpert.
„Benito“ führt uns nicht nur in seine und Cherubims Kindheit, in seine Vergangenheit, sondern auch in die Vergangenheit der Bundesrepublik. „Benito“ führt in die verschüttete und verdrängte Vergangenheit, der sich Cherubim zu stellen versucht, indem er mühsam den Schutt der Verdrängung abträgt. Und manchmal kommen Dinge zu Tage, nach denen wir nicht gesucht hatten und die mehr Fragen als Antworten mit sich bringen.
Was auf der Pfadfinderreise geschehen ist, was Cherubim verdrängt hat und nun wieder hervorholen muss, dass hat Benito und alle Mitglieder der schwarzen Steine verändert und ihre Kindheit abrupt und auf traumatische Weise beendet. Das hat Benito verändert, den blinden Benito das Leid und die Ungerechtigkeit der Welt sehen lassen, spüren lassen. In kindlichen, prophetischen Monologen teilt er seine Wahrnehmung mit uns und mit reichlichem Schaudern denkt man unweigerlich an die gegenwärtigen Krisen, die wir derzeit erleben und die sich zum Teil auch im Buch wiederfinden. Pandemie, Krieg… Diese Prophezeiungen reißen Benito in den Abgrund, ehe ihn, längst erwachsen geworden, die Realität endgültig zerstört.
Ich wage es nicht die Handlung genauer darzustellen, auch wenn das hier sicherlich gewünscht wäre, aber es ist unmöglich näheres zu beschreiben, ohne zu spoilern. Wenn ihr das Buch lest, werdet ihr verstehen warum.
Ich finde mit „Benito“ hat Hendrik Otremba ein tolles Buch geschrieben, dennoch empfehle ich es mit Vorsicht. Es ist definitiv kein Buch, was man an zwei Abenden, bei einer Tasse Tee auf dem Sofa mal eben weg liest. Vielleicht legt man es weg, zurück ins Regal. Aber man sollte es da auf jeden Fall wieder rausholen und zu Ende lesen.
Das Buch ist am 24. August 2022 im März Verlag erschienen, zu kaufen im Buchhandel ums Eck und wo es halt Bücher gibt.